Freie Universität Berlin
Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft
Studiengang Journalisten-Weiterbildung
Orientierungsseminar A 2000

  

Zunehmende Differenzen
nach der deutschen Einheit:
Realität oder Irrglaube?

Arnstadt, April/Mai 2000

 

1. EINLEITUNG

Am 3. Oktober 1990 wurde die deutsche Einheit in staatlicher Hinsicht vollzogen. Von beiden Seiten mit Freude, aber auch mit Argwohn begleitet, begann ein Prozess, der heute, fast zehn Jahre später, noch längst nicht abgeschlossen ist.

„Der erste und wichtigste Tatbestand, mit dem wir es in der neuen Bundesrepublik zu tun haben, scheint mir noch nicht richtig begriffen worden zu sein. Das ist die Wiedererstehung der Differenz nach der Einheit. Die wechselseitigen Ethnisierungen von „Ostlern" und „Westlern" sind nach einem halben Jahrzehnt nicht weicher und durchsichtiger, sondern härter und erbitterter geworden." (Heinz Bude, Die ironische Nation, Hamburg 1999, S. 61) Diese Aussage untermauert der Soziologe Heinz Bude mit der These, „je näher man sich kommt, um so mehr entsteht der Wunsch, sich voneinander abzugrenzen".

Bedeutet also Einheit prinzipiell auch Abstand? Kann hier gar nicht zusammenwachsen, was zusammengehört? Oder ist es vielmehr so, dass an der Basis die Problematik der Ost-West-Konflikte auf einer ganz anderen Ebene wahrgenommen wird, als es in Wissenschaftskreisen der Fall ist? Unbestritten ist, dass zwischen Ost- und Westdeutschen Mentalitätsunterschiede bestehen. Aber auch unabhängig davon, so zum Beispiel in der gegenwärtig im Öffentlichen Dienst tarifrechtlich heiß umkämpften Frage der Lohnangleichung, gibt es Problemfelder, die zeigen, dass es bis zur inneren Einheit noch ein weiter Weg ist. Ein Versuch, zu klären, ob die bestehenden Gräben im Moment weiter aufgerissen oder aber langsam verfüllt werden, soll auf den folgenden Seiten unternommen werden.

„Vereinigungsbilanzen" nannte Thomas Bulmahn seine Bilanz des sozialwissenschaftlichen Forschungsstandes zur deutschen Einheit. Diesem Diskurs stellt er voraus: „Die Fülle der Bücher, Zeitschriftenartikel und Diskussionsbeiträge zu diesem Thema ist mittlerweile so groß, daß die Debatten in einem babylonischen Stimmengewirr unterzugehen drohen. Angesichts der überwältigenden Vielfalt entsteht bei einigen Beobachtern bereits der Eindruck, die theoretischen Argumente wären austauschbar und die empirischen Belege seien beliebig" (Bulmahn, 1997, S. 29).

Diese von Bulmahn erwähnte Vielfalt in der wissenschaftlichen Literatur macht es – noch dazu in einem vergleichsweise geringen Zeitraum von einem Monat – zu einem Problem, einen repräsentativen Querschnitt der Ansichten über die Prozesse im vereinten Deutschland zu studieren und zu vergleichen. Deshalb wurde als Grundlagen für die folgenden Betrachtungen neben einer Momentaufnahme direkt im Anschluss an den staatlichen Vollzug der deutsche Einheit hauptsächlich das von der Journalisten-Weiterbildung der Freien Universität Berlin zur Verfügung gestellte Material, ergänzt von aktuellen Studien, herangezogen. Im Mittelpunkt der Betrachtungen soll der Alltag der Menschen in Ostdeutschland stehen, die aufgrund der radikalen Änderung ihrer Lebensgrundlage am stärksten durch die deutsche Einheit berührt wurden. Ein Interview mit dem PDS-Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag, Gregor Gysi, soll der Frage nachgehen, wie eine der wohl größten ostdeutschen Identifikationsfiguren die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen im zehnten Jahr nach dem Tag der Wiedervereinigung sieht.

 

2. URSACHENFORSCHUNG: WAS UNTERSCHEIDET OST UND WEST?

2. 1. Wiedererstehung der Differenz – Versuch einer Definition

Das lateinische Wort Differenz steht nicht nur für den Unterschied zweier (meist mathematischer) Größen, sondern auch für Unstimmigkeiten, Meinungsverschiedenheiten, Zwist und Streit. Wenn man vom Wortsinn ausgeht, dann bedeutet Budes Aussage von der Wiedererstehung der Differenz nach der Einheit, dass es irgendwann einmal Differenzen gab, zwischenzeitlich (vor der Einheit?) jedoch keine mehr – schließlich war Voraussetzung für die Wiedervereinigung auch, dass es einmal eine Vereinigung gegeben hatte, zwischenzeitlich aber nicht. Diese Deutung trifft aber mit Sicherheit nicht zu, auch wenn der Soziologe in seinen Ausführungen feststellt: „So paradox das klingen mag: In den schönen Zeiten, als für die DDR-Bürger die Bundesrepublik noch als ihre über Westfernsehen vermittelte imaginäre Referenzkultur fungierte, waren wir uns möglicherweise näher als heute" (Bude, 1999, S. 62). Vielmehr ist Budes weiteren Ausführungen über die Grundlagen der Unterschiede – Primat der Politik durch das Machtmonopol der SED; Bedeutung des Betriebes als Vergesellschaftungskern; besondere Stellung der Familie; sukzessiver Verlust von innerer Legitimität des sozialistischen Neuanfangs – zu entnehmen, dass die Differenzen von heute auf die Unterschiede von vor 1989 zurückzuführen sind (Bude, 1999, S. 64-68).

Es handelt sich also anscheinend weniger um eine Wiedererstehung der Differenz als vielmehr um eine Zunahme. Diese These wurde schon 1995 durch eine Umfrage des Emnid-Institutes gestützt, der zufolge zu diesem Zeitpunkt von der ostdeutschen Bevölkerung 16 Bereiche genannt wurden, „in denen die DDR angeblich überlegen war (1990 waren es von 16 Bereichen nur drei). Bei diesen Bereichen sind die Zustimmungswerte gegenüber 1990 deutlich gestiegen: Gleichberechtigung der Frau von 67 auf 87 Prozent; soziale Sicherheit von 65 auf 92 Prozent und Schutz vor Verbrechen von 62 auf 88 Prozent" (Glaser, 1997, S. 436, 437). Als weitere Bereiche, in denen die DDR überlegen gewesen sei, wurden u.a. die Schul- und Berufsausbildung und die Versorgung mit Wohnungen genannt. Auch die 13. Shell Jugendstudie, die Anfang des Jahres 2000 erschienen ist und somit die zur Zeit wohl aktuellsten Daten bietet, sieht zumindest keine Anzeichen dafür, dass sich Differenzen verringert haben könnten. „Eigene und fremde Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass zwischen Ost- und Westdeutschen weiterhin große Unterschiede bestehen. Die Vermutung, dass gegenüber früheren Zeiten diese Unterschiede sogar größer geworden seien, wurde zum Bestandteil der öffentlichen Diskussion, ebenso wie die gegenseitigen Vorwürfe, für die spezifischen Probleme des jeweils anderen Landesteiles kein Verständnis aufzubringen. Objektiv bestehende Unterschiede wurden flugs als Konsequenzen unterschiedlicher Charakterstudien aufgefasst, eine (offene) Ostalgie und eine (eher versteckte) Westalgie prägten die Sichtweise vieler Menschen." (13. Shell Jugendstudie, 2000, S. 284).

Wenn man also von der Zunahme der Differenz nach der Einheit spricht, dann äußert sich diese zumeist durch den teilweisen Rückzug der Beteiligten in die eigene Vergangenheit. So entstehen Pauschalurteile, denen man wie allen Pauschalurteilen zwar einen gewissen Prozentsatz an Wahrheit unterstellen kann, die aber nie wirklich zutreffend sind. Da gibt es auf der einen Seite den Jammer-Ossi, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit davon erzählt, wie schön es doch eigentlich in der DDR war, wie sicher und wie kameradschaftlich, der aber andererseits nach materiellen Gütern und deshalb ständig nach höheren Gehältern giert. Und da gibt es im Gegensatz dazu den Besser-Wessi, der stets und ständig seine Überlegenheit aus 40 Jahren Demokratie präsentiert, großzügig davon spricht, dass man die armen Brüder und Schwestern aus dem Osten ja gerne aufgenommen hat, aber doch mehr Dankbarkeit erwartet und außerdem vor der Vereinigung ja in einem viel besseren Sozialstaat gelebt hat, als das jetzt durch die vereinigungsbedingten Kosten möglich ist. Diesen im Alltag oftmals deutlich sichtbaren Rückzug – die Ostalgie und Westalgie – vergleicht Heinz Bude mit der Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen. „Jeder greift auf eine dem anderen unzugängliche Vergangenheit zurück, aus der Vorstellungen des ganz und gar Eigenen und Geheimen geschöpft werden. Besonders derjenige Partner, der sich in der unterlegenen Position fühlt, wird zu nachträglichen Verschönerungen und Verklärungen bestimmter Perioden und Erlebnisse seines Vorlebens neigen und dabei unangenehme, mißliche und beschämende Aspekte beiseite schieben." (Bude, 1999, S. 61)

Diese Aussage legt den Schluss nahe, dass es sich, im Gegensatz zu einer Liebesheirat, nach der man auch die Vergangenheit miteinander teilen möchte, bei der deutschen Einheit wohl doch mehr um eine augenblicksdiktierte Vernunftehe handelt, die nun von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Viele der immer noch vorhandenen Differenzen sind meiner Meinung nach Ausdruck der Tatsache, dass es sich bei der Wiedervereinigung nicht um die Gründung eines neuen deutschen Staates, also einen Schritt zu einer neuen Qualität, sondern schlicht und einfach um einen Beitritt eines (kleinen) Teiles zu einem anderen (großen) Teil handelt. Differenzen sind auch Ausdruck von Sieger- und Verlierermentalität, was Hans-Joachim Maaz bereits 1991 so beschrieb: „Daß es psychologische Schwierigkeiten gibt, ist also nicht mehr zu verbergen, aber daß dies beide Seiten betrifft, wird noch längst nicht verwirklicht oder gar akzeptiert. So passiert die Besser-Wessi-Arroganz: Sie wollen Geld geben, auch Personalexporte, selbst Geduld und Verständnis, aber auf keinen Fall die eigene Not bedenken und die Notwendigkeit zur eigenen Veränderung sehen" (Maaz, 1991, S. 127).

Im Alltag begegnet man den Differenzen auf unterschiedlichste Art und Weise. Die einen kokettieren damit, treffen sich zu Ostalgie-Feten mit FDJ-Hemd und DDR-Kampfliedern. Die anderen bringen unumwunden ihren Ärger über die verpasste Chance, mit der Wiedervereinigung etwas besser zu machen, zum Ausdruck. „Die westdeutschen Parteien brachen über das Land herein und begruben unter sich alles, was sich eben geregt hatte. Mit maßloser Arroganz verkauften sie uns ihre Demokratie", beklagte vor Jahren im Spiegel Filmemacher Konrad Weiß, der einen langen Zeitraum für die innere Einheit prophezeit: „Politisch können wir die Wiedervereinigung abhaken, politisch ist sie vollzogen – die Machtpolitiker, scheint es, haben recht behalten. Bis aber die Gräben zwischen den Menschen von hier und dort geschlossen, bis die geistigen und kulturellen Mauern niedergerissen werden, wird es noch eine Generation brauchen" (Weiß, 1993, S. 41).

Fraglich dabei ist aber immer, ob die von Politikern und Wissenschaftlern wahrgenommenen Probleme im Alltag tatsächlich so eine dominierende Rolle spielen. Dem widerspricht das Ergebnis einer im Datenreport 1999 des Statistischen Bundesamtes veröffentlichten Befragung zur Konfliktwahrnehmung in Deutschland. In dem heißt es: „Mit Blick auf die „innere Einheit" ist bemerkenswert, dass der Ost-West-Gegensatz nur an siebter (West) bzw. Sechster (Ost) Stelle von neun abgefragten Interessenkonflikten genannt wird". (Statistisches Bundesamt, Datenreport 1999, 2000, S. 593) Zwar sind mit 39 Prozent (West) und 57 Prozent (Ost) immer noch viele Deutsche der Meinung, dass die Konflikte zwischen Ost und West ziemlich stark sind, andererseits handelt es sich bei dieser Nennung um den einzigen der neun Bereiche, der gegenüber der vorhergehenden Befragung aus dem Jahr 1993 von beiden Seiten positiver bewertet wird. Dieses Ergebnis könnte darauf hindeuten, dass zwischen der Forschung und dem Erleben im Alltag durchaus Unterschiede bestehen.

2. 2. Forschungsstand in Bezug auf die Differenzen im vereinten Deutschland

Die Deutsche Einheit war nicht nur ein Glücksfall für die sozialwissenschaftliche Forschung, in gewisser Weise war sie auch ein Armutszeugnis. Niemand hatte eine solche Umwälzung auch nur im Ansatz vorhergesehen, deshalb fehlte es auch an Erklärungen, wie sie zustande gekommen sein könnte und wie das Leben nach der Einheit weitergehen könnte. Das ist heute anders. Thomas Bulmahn hat in seiner Veröffentlichung „Vereinigungsbilanzen" die maßgeblichen sozialwissenschaftlichen Thesen zur deutschen Einheit zusammengetragen und gegenübergestellt. Er gibt dabei die Meinung wieder, dass zwar viele wissenschaftlich relevante Entdeckungen gemacht worden, bedeutende theoretische Innovationen jedoch ausblieben.

Eine grundsätzliche Trennung erfolgt laut Bulmahn in das Spektrum der Systemtheorie und in das der Akteurstheorie. Ersterer ordnet er hauptsächlich modernisierungstheoretische Studien zu, u.a. gehe es hier um „den Transfer, die Nacherfindung bzw. die Weiterentwicklung moderner Basisinstitutionen" (Bulmahn, 1997, S. 29). Die Modernisierungsdebatte ist laut Bulmahn geprägt von der These einer gelungenen Modernisierung Ostdeutschlands sowie einer Reihe von kritischen Gegenthesen.

Ein Verfechter der These von der erfolgreichen und sich stabilisierenden Transformation ist etwa Wolfgang Zapf. In Bezug auf Tempo, Tiefgang und Richtungstreue des sozialen Wandels zieht dieser eine positive Bilanz, lediglich in der Frage der Steuerbarkeit wird der Erfolg nicht so hoch eingeschätzt (Bulmahn, 1997, S. 30).

Als der auch von Heinz Bude vertretenen These einer neuen Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland zugetan gelten Rainer Geißler und Wolfgang Fach. Letzterer stellte anhand der Analyse der politischen und kulturellen Einstellungen fest, dass es im Verlauf der letzten Jahre zu einer „Wiederentfremdung" zwischen den Deutschen in Ost und West gekommen sei (Fach, 1995). Geißler macht dafür u.a. ein „neues Gefälle der Unsicherheit" verantwortlich, einen „regionalen Verteilungskonflikt", der von ökonomischer, kultureller, politischer und sozialer Deklassierung begleitet werde (Geißler, 1995, S. 132).

Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf plädiert für einen „eigenen Weg" der neuen Länder, da eine Aufholjagd nicht nur aussichtslos, sondern auch wegen der gewaltigen Kosten unzumutbar sei (Biedenkopf, 1994). Das ist auch die Meinung von Barbara Riedmüller, die Ostdeutschland keine Chance gibt, den „Modernisierungsrückstand gegenüber den westlichen Ländern in einer Generation bzw. absehbarer Zeit aufzuholen" (Riedmüller, 1994, S. 16).

Eine bloße Kopie des westdeutschen Institutionensystems angesichts eines verschärften internationalen Wettbewerbes sowie in Anbetracht von Wachstumsschwäche und Massenarbeitslosigkeit nicht ausreichend, begründet Dieter Klein seine These, dass eine doppelte Modernisierung notwendig ist. Nur dann könne die Transformation Ostdeutschlands erfolgreich sein, so Klein, der dafür eintritt, den ostdeutschen Fall im Kontext der globalen Entwicklungen zu betrachten (Klein, 1994, S. 33).

Diskrepanzen zwischen System und Lebenswelt machen laut Bulmahn Vertreter der fünften modernisierungstheoretischen These aus, zu denen Claus Offe, Rainer M. Lepsius und Rudolf Woderich zählen. Für Woderich stellt die sozial- und kulturgeschichtlich geformte Lebenswelt mit ihrem „Fundus an Deutungs- und Handlungsmustern" etwas dar, was sich nur verhältnismäßig langsam ändern kann. Es mache sich ein „lebensweltlicher Eigensinn" bemerkbar, der in Widerständen gegen den Wandel zum Ausdruck kommt (Woderich, 1992, S. 58). Lepsius und Offe sowie weitere Autoren sehen laut Bulmahn Ursachen für die schlechte Stimmungslage im Osten in der Übertragung westlicher Institutionen, die mit dem ostdeutschen Erfahrungsschatz wenig zu tun haben (Bulmahn 1997, S.32). Schon 1992 warnte der damalige stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse davor, dass die deutsche Einigung sich unter der Dominanz des Westens vollziehe und damit, selbst wenn sie ökonomisch gelinge, menschlich scheitere (Thierse, 1993, S. 24).

„Verletzte Selbstwertgefühle" sind nach Ansicht von Helmut Wiesenthal Ursache für den „kollektiven Widerspruch" der Ostdeutschen (Wiesenthal, 1996, S. 46-54). Detlef Pollak als ein weiterer Vertreter der Kompensationsthese meint, die Skepsis und die veränderten Einstellungen der Ostdeutschen gegenüber dem wachsenden Institutionensystem sowie die zunehmende Akzeptanz sozialistischer Ideale seien „ eine direkte Folge der erfahrenen Abwertung der DDR-Vergangenheit und der erfahrenen Geringschätzung der ehemaligen DDR-Bürger". Mit der schlechten Beurteilung der westlichen Institutionen solle die eigene Abwertung durch die Westdeutschen kompensiert werden (Pollack, 1996, S. 16). Als Fremde im eigenen Land bezeichnete Wolfgang Thierse, heute Präsident des Deutschen Bundestages, 1994 die Ostdeutschen. Momente von „trotziger Selbstbehauptung, von unbeholfener Abwehr der Entwertung des Eigenen, der Entwertung der ostdeutschen Lebensleistungen und Biographen" macht Thierse verantwortlich für den Slogan: „Es war doch nicht alles schlecht bei uns in der DDR" (Thierse, 1994, S. 52).

Im Vergleich dieser sechs Thesen wird deutlich, dass der größte Teil der Autoren die deutsche Einheit im bisherigen Erscheinungsbild als wenig erfolgreich darstellt. Die modernisierungstheoretische Debatte ist laut Bulmahn geprägt von der „Konfrontation zwischen der Auffassung von dem erfolgreich verlaufenen Modernisierungsprozess Ostdeutschlands und den Thesen über die Risiken und Nebenwirkungen dieser Schocktherapie" (Bulmahn, 1997, S. 33). Die Modernisierungstheorie, die die nachholende Modernisierung Ostdeutschlands als Folge des Modernisierungsdefizits der DDR zum Mittelpunkt hat, beschränkt sich fast ausschließlich auf Ostdeutschland und den Transfer von Institutionen, Recht und Gesetz aus den alten Bundesländern. Europäische Einigung, Globalisierung und die damit zusammenhängenden Umwälzungen vor allem auf dem wirtschaftlichen Sektor werden weitgehend ausgeschlossen.

Speziell dem Handeln individueller und kollektiver Akteure wird im von Bulmahn akteurstheoretischer Diskurs genannten zweiten Thesenblock mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Hier steht unter anderem die Frage der Steuerbarkeit des Einheitsprozesses durch dominante Akteure im Mittelpunkt.

Die These vom eigendynamischen Verlauf des Transformationsprozesses erklärt Gerhard Lehmbruch mit einem Zwei-Phasen-Modell. Schon in der ersten Phase, als die wesentlichen Entscheidungen getroffen werden mussten, gaben überforderte Akteure die Chance aus der Hand, die zweite Phase noch steuern zu können, meint Lehmbruch. Die Handlungsfähigkeit wurde nur durch den Rückgriff auf extreme Vereinfachung, „speziell durch den Rückgriff auf traditionelle ordnungspolitische Vorstellungen", gewonnen. (Lehmbruch, 1994, S. 21).

Ähnlich analysiert Christine Landfried die Entwicklung, wenn sie von einer Architektur der Unterkomplexität spricht. Auch ihrer Meinung nach seien zu einfache Konzepte angewandt worden, die „der tatsächlichen Komplexität, Dynamik und Langfristigkeit des sozialen Wandels in Ostdeutschland nicht gerecht werden" konnten. Wie Lehmbruch macht auch Christine Landfried Eigeninteressen westdeutscher Akteure für die Entwicklung verantwortlich. Institutionen und Spielregeln der alten Bundesrepublik seien weitgehend unangetastet geblieben – diese Form der Besitzstandswahrung könne man jedoch nicht als Erfolg bewerten, diese Politik erweise sich bereits kurzfristig als desintegrierend (Landfried, 1995, S. 48).

Als größte Fehlleistung der westdeutschen Transformationspolitik und Beispiel der nichtintendierten Folgen politischen Handelns betrachtet Wolfgang Seibel die Währungsunion. Der unangemessene Umtauschkurs habe zu einem Kollaps im Osten geführt, zu wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die den Entscheidungsspielraum der Akteure in Bezug auf die weitere Gestaltung der Einheit zunehmend einschränken. Auch Seibel spricht von Problemvereinfachung und politischer Komplexitätsreduktion (Seibel, 1995, S. 249).

In seiner These der Inflexibilität der Politik wirft Klaus Müller den Akteuren das starke festhalten an der Vision einer durch Marktwirtschaft forcierten Modernisierung vor. Nach der Begründung politischer Entscheidungen mit ökonomischen Sachzwängen habe sich die Politik ihrer Gestaltungsmittel beraubt, meint Müller (Müller, 1995, S. 25).

Eine durchaus vorhandene Steuerbarkeit des Einheitsprozesses in einer Reihe von Politikfeldern wie in der Arbeitsmarkt-, Schul-, Finanz-, Rechts- sowie Verfassungspolitik sieht Klaus von Beyme. Er schätzt jedoch ein, dass Steuerungsbemühungen parastaatlicher bzw. verbandlicher Akteure erfolgreicher waren und somit Chancen für neue Lösungen verpasst wurden (von Beyme, 1994, S. 266). Wolf Lepenies bezieht die These der verpassten Reformen nicht nur auf die neuen Bundesländer, sondern beklagt die Folgenlosigkeit der deutschen Einheit für Westdeutschland. Als „Festival der Selbstbestätigung" bezeichnet er das, was die politische Klasse der alten Bundesrepublik, unterstützt vom Politikverzicht der Ostdeutschen, aus der Vereinigung gemacht habe (Lepenies, 1992).

Noch einen Schritt weiter als ihre Autorenkolleginnen und -kollegen gehen Wolfgang Dümcke und Fritz Villmar. Nicht einfach Besitzstandswahrung, sondern die Kolonisierung Ostdeutschlands sei Ziel der westdeutschen Akteure gewesen. Ostdeutsche Reformversuche wurden ignoriert, die DDR-Wirtschaft durch die schnelle Währungsunion ruiniert, alle Entscheidungszentren unter westliche Kontrolle gebracht und die Menschen von der Geschwindigkeit des Umbruchs und der westlichen Dominanz überwältigt worden – so untermauern Dümcke und Vilmar ihre äußerst kontrovers diskutierte These (Dümcke/Vilmar, 1996, S. 35-45).

Gleich dem modernisierungstheoretischen Diskurs klammert auch die Akteurstheorie die außenpolitische Dimension der Wiedervereinigung aus. Zwar vorhanden, aber beschränkt auf eine politische und wirtschaftliche Elite an den Hebeln der Macht, wird ein Akteursmodell aufgezeigt, dass die Masse der westdeutschen Bevölkerung, die letztlich großen Anteil an den Transferzahlungen hat, ausgeklammert. Ebenso spielen ostdeutsche Akteure kaum eine Rolle. Deutlich wird, dass auch die Vertreter der Akteurstheorie die Vereinigung überwiegend negativ bewerten, besonders oft wird hierbei das Versagen der Politik in der Anfangsphase verdeutlicht (Bulmahn, 1997, S. 36).

Spaltung, Isolation und Negativperspektive – so benennt Thomas Bulmahn die Schwachpunkte der Diskussion zur Deutschen Einheit. Die Spaltung macht er an der Trennung der Diskussion in zwei separate Debatten deutlich, die weitgehend voneinander abgeschirmt sind. Die Isolation bezieht Bulmahn darauf, dass der Mehrheit der Thesen auf Ostdeutschland beschränkt ist. Außerdem schätzt er ein, dass „der Verlauf, die Folgen und die Perspektiven der deutschen Einheit .. negativ überzeichnet" werden (Bulmahn, 1997, S. 37).

Interessant ist, dass viele der Thesen das beinhalten, was sie als Ursache für das Scheitern des Vereinigungsprozesses ausmachen – eine extreme Vereinfachung. Die Beschränkung auf die Modernisierungs- oder die Akteurstheorie führt dazu, dass wichtige Aspekte in der Analyse gar keine Rolle spielen. Thomas Bulmahn sieht für die sozialwissenschaftliche Forschung zwei Trends: Internationalisierung und Regionalisierung. Diese Entwicklung könnte dazu beitragen, dass die Forschung der Komplexität der deutschen Einheit künftig stärker gerecht wird. Ein von Thomas Bulmahn benannter wichtiger Aspekt sollte nicht unbeachtet bleiben: „In dem Maße, wie die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland überwunden werden, geraten neue Differenzen auf der Ebene der Bundesländer in den Blick". Darauf muss die sozialwissenschaftliche Forschung eingestellt sein, damit sie nicht wieder so von den Ereignissen überrascht wird wie 1989 durch die Wende in der DDR (Bulmahn, 1997, S. 37).

Parallel zu den Forschungen der Entwicklung der deutschen Einheit versuchte Wolf Wagner in seiner Veröffentlichung „Kulturschock Deutschland" 1996 eine Beschreibung über den Verlauf und damaligen Stand der Vereinigung vorzunehmen. Er bediente sich dafür eines U-Kurven-Verlaufes, anhand dessen er fünf Phasen einer Vereinigung aufzeichnete. Der von Euphorie geprägten Auftaktphase – die eigene Kultur wird nicht infrage gestellt, man ist Zuschauer – folgt die Entfremdungsphase, in der man sich bei ersten Kontaktschwierigkeiten noch selbst die Schuld gibt. Die dritte Phase, der Tiefpunkt, ist gekennzeichnet von Eskalationen. Schuldzuweisungen gehen an die fremde Kultur, die eigene Kultur wird verherrlicht. Dieser Phase, in der wir uns wie 1996 immer noch befinden, folgt der Aufschwung in der Form, dass Konflikte als Missverständnisse wahrgenommen werden. In der abschließenden Phase der Verständigung werden die unterschiedlichen Spielregeln verstanden, geduldet, erlernt und geschätzt. Während sich die alten Länder für sich und die neuen Länder für sich durchaus im Bereich dieser abschließenden Verständigung befinden, gilt für den Konflikt zwischen den alten und den neuen Bundesländern, dass hier der Zeitpunkt des Verherrlichung der eigenen Ursprungskultur – die schon mehrfach erwähnte Ostalgie und Westalgie – noch nicht vorüber ist. Wolf Wagner ist sich nicht einmal sicher, ob es zur Phase vier kommen muss: „Der Grad der Eskalation bestimmt, wie tief der Wendepunkt liegt und ob es überhaupt eine Wende gibt" (Wagner, 1996, S. 18-19). Allerdings sieht er in der gegenwärtig am weitesten verbreiteten Abwehrstrategie, „nämlich den anderen die Schuld zu geben und die eigene Kultur zu verherrlichen .. den großen Vorteil, daß sie das in der Entfremdungsphase angeschlagene Selbstbewußtsein wieder aufbaut und Angst in Aktivität verwandelt" (Wagner, 1996, S. 21). Seine Hypothese ist, dass Konflikte dort, wo sie nur kulturell und nicht materiell sind, gute Chancen haben, als Missverständnisse begriffen zu werden. Den entscheidenden kulturellen Unterschied zwischen Ost und West sieht Wagner jedoch nicht in diesem Bereich, sondern in der Einstellung zu materiellen Dingen, die in der DDR – mit Ausnahmen – gleichmäßig verteilt und im Prinzip erschwinglich waren, und denen jetzt ein überwältigendes Warenangebot gegenüber steht, dass sich selbst die Reichsten kaum leisten können.

 

3. BESSERWESSI UND UNDANKBARER OSSI – UNVEREINBAR?

3. 1. Ossi und Wessi entdecken einander: Vorurteile kontra Erleben

Drei Männer – ein Ossi, ein Wessi und ein Neger - warten vor dem Kreißsaal. Endlich kommt die Schwester und sagt: „Herzlichen Glückwunsch, sie haben alle einen Sohn bekommen. Aber es ist uns ein Mißgeschick passiert. Wir haben die Kinder vertauscht. Wir machen Ihnen ein Angebot, sie können sich eins aussuchen". Der Ossi rennt sofort los, schnappt sich das Negerbaby und will verschwinden. Die Schwester weist ihn darauf hin, dass das doch wohl nicht seins sein könne. Darauf der Ossi: „Das ist mir egal, Hauptsache nicht den Wessi!".

Was ist der Unterschied zwischen Wessis und Russen? Die Russen sind wir losgeworden.

Warum nennen Wessis die Ossis „Ossis"? Weil sie das Wort „Spezialisten" nicht aussprechen können...

Wann ist die Wiedervereinigung vollendet? Wenn der letzte Ossi aus dem Grundbuch verschwunden ist...

Was ist der Unterschied zwischen einem Terroristen und einem Ossi? Terroristen haben Sympathisanten

Warum sagt man nicht „blöder Wessi"? Man sagt ja auch nicht „weißer Eisbär"!

Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Wessi ist es anders rum.

Nimmt man diese oder andere Ossi-Wessi-Witze als Grundlage (die man natürlich fast alle auch umgekehrt erzählen kann), glaubt man manchen Stammtischgesprächen, dann gibt es keine größeren Feinde als West- und Ostdeutsche. Ist das wirklich so? Und wird diese Kluft immer größer? Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass nach der Wende viele zwielichtige Gestalten ihre Chance genutzt haben, aus den marktunerfahrenen Ostdeutschen möglichst viele der neu gewonnen D-Märker herauszupressen, sei es mit minderwertigen Waren zu hohen Preisen, unseriösen Geldanlagen, überzogenen Bausparverträgen. Aber, und das sollte man nicht vergessen, schnell wurden auch Ossis Handlanger der Wessis und zogen ihren Nachbarn das Geld noch schneller aus der Tasche, weil sie ihre Mentalität kannten. Man kann mit Sicherheit auch davon ausgehen, dass nicht wenige der nach der Grenzöffnung in den Westen gezogenen Ossis meinten, jetzt in ein Schlaraffenland zu kommen, in dem ihnen als den armen Brüdern und Schwestern aus dem Osten, die gebratenen Tauben nur so in den Mund fliegen.

Ebenso sicher ist aber auch, dass nach der Wende Westdeutsche hier in den neuen Ländern nicht nur unverzichtbare Aufbauarbeit in Verwaltungen, in Vereinen und in der Politik geleistet haben, sondern dass sie durch ihr Beispiel, durch ihre Gabe, zuzuhören, das pauschale Bild vom Besserwessi schnell verwischt haben. Und genauso haben viele Ossis im Westen durch ihrer Hände Arbeit gezeigt, dass der Jammerossi, der nur Geld haben will, aber nicht arbeiten kann, ebenso nur eine Randgruppe ist. Warum aber sprechen dann Sozialwissenschaftler heute von zunehmenden Differenzen zwischen Ost und West?

Da muss man sich zuerst die Frage stellen, ob man das mit den zunehmenden Differenzen auch im Alltag, fernab aller Wissenschaft, so sieht. Und das ist, zumindest was den Osten angeht, nicht der Fall. Im zehnten Jahr nach der Wende gibt es eine Vielzahl von Jubiläen zu feiern. Vereine und Städte feiern Ost-West-Partnerschaften, Firmen begehen ihr zehnjähriges Bestehen – oft mit Partnern aus den alten Bundesländern. Hier gibt es keinen Zwiespalt, keine Verständigungsprobleme. Natürlich – auch hier wird mit Ostalgie kokettiert, der Satzanfang „Weißt Du noch, wie wir damals..." ist häufig zu hören. Aber ist das nicht normal? Soll man auf seine Vergangenheit verzichten, nur weil sie heute nicht mehr „in" ist? Deutlich wird eins: Dort, wo man sich mit dem anderen beschäftigt, wird es zum Alltag, zur Normalität. Das ist in den alten Bundesländern nicht anders. Der Ali, der beim Türken um die Ecke den leckeren Döner macht – nein, der ist doch in Ordnung. Und der Ossi, der dort in der Ausflugsgaststätte kellnert, der ist echt gut drauf. Und wie freundlich der ist! Nur die anderen, die haben hier nichts zu suchen.

Nähe schafft Vertrautheit, Verständnis. Eine mögliche Lösung des Ost-West-Konfliktes könnte darin bestehen, alle Deutschen nacheinander in das jeweils andere Gebiet für ein „Einheitsjahr" zu schicken, damit sie gezwungen werden, sich mit den anderen auseinander zusetzen. Der ostdeutsche Psychotherapeut und Autor mehrerer Bücher zur Vereinigungsproblematik, Hans-Joachim Maaz, sieht das so: „Würden sich aber West- und Ostdeutsche auf menschlicher Ebene begegnen, also wenn sie sich darüber verständigen würden, wie sie wirklich leben, was sie ängstigt und freut, wie sie die Beziehungen in der Familie zwischen den Geschlechtern und in der Sexualität gestalten, wie glücklich oder unzufrieden sie sind, dann dürfte es keine großen Unterschiede mehr geben" (Maaz, 1991, S. 128).

Natürlich gibt es Meinungsverschiedenheiten zwischen Ost- und Westdeutschen, die ihren Ursprung in Mentalitätsunterschieden und vor allem in komplett unterschiedlichen Vergangenheiten haben. Die aber – eine Angleichung der Lebensverhältnisse in absehbarer Zeit vorausgesetzt – scheinen nicht so schwerwiegend zu sein, um dem Prozess der deutschen Einheit dauerhaft zu schaden. Schon jetzt wird eine Hinwendung zur Regionalisierung deutlich, fühlen sich Thüringer als Thüringer und Mecklenburger als Mecklenburger. Und kein Mensch sieht die Tatsache, dass Erstere als gastfreundlich und aufgeschlossen gelten, während Letzteren eher eine gutmütige Behäbigkeit und Verschlossenheit nachgesagt wird, als untrennbaren Gegensatz, der es nie zulassen würde, dass sich beide gemeinsam als Deutsche verstehen.

Viel hängt davon ab, wie neue Generationen von Thüringern, Hessen, Sachsen und Niedersachsen lernen, miteinander umzugehen. Und da ist, glaubt man den Erhebungen der 13. Shell Jugendstudie, die Hoffnung auf ein schnelles Zusammenwachsen fehl am Platze. Von Regionalisierung ist bei der Generation, die eigentlich vom Erleben her kaum noch von der BRD oder DDR, sondern vom vereinten Deutschland geprägt wird, keine Spur: „Die Urteilsdifferenzen zwischen Ost und West fallen so eklatant aus, dass sie Differenzen zwischen den Bundesländern überlagern. Mit anderen Worten: Die Differenzen in den Lebenslagen und Einstellungen sind größer zwischen Sachsen und Bayern/Baden-Württemberg als zwischen Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Sie sind größer zwischen Schleswig-Holstein und Brandenburg/Mecklenburg-Vorpommern als zwischen Schleswig-Holstein, Bayern und Baden-Württemberg" (13. Shell Jugendstudie, 2000, S. 284). Ein interessanter Aspekt ergibt sich aus den Antworten auf die Frage, welche Motive für die Berufswahl eine Rolle spielen. Während im Westen der Wunsch nach freundlichen Kollegen am Arbeitsplatz, Kreativität und Eigenständigkeit stärker ausgeprägt ist, legen ostdeutsche Jugendliche bei der Job-Suche vor allem Wert auf gute Verdienstmöglichkeiten und Sicherheit vor Arbeitslosigkeit. Jeder sucht nach dem, was ihm fehlt, könnte man sagen, und kommt der Realität damit wahrscheinlich recht nah. Kollegialität im Osten, gute Verdienstmöglichkeiten und geringere Arbeitslosigkeit im Westen – hier werden ehemalige Systemunterschiede deutlich. Während in den alten Bundesländern die Wirtschaft Jahrzehnte Zeit hatte, mit veränderten Marktbedingungen umgehen zu lernen, hat die Planwirtschaft im Osten dazu geführt, dass vieles zur Wende einer Trümmerwüste glich. Die blühenden Landschaften manifestieren sich auch heute noch vielerorts in überdimensioniert erschlossenen Gewerbegebieten, überfüllt mit Löwenzahn und Klatschmohn. Logisch, dass Jugendliche, die im Elternhaus immer wieder von der eingeschränkten, aber eigentlich unumstößlichen Sicherheit zu DDR-Zeiten hören, sich diese in einer Situation erträumen, in der mehr als 20 Prozent Arbeitslosigkeit Realität sind und Ostlöhne in den meisten Fällen meilenweiten Abstand zu Westlöhnen haben. Dabei spielt schon lange die Frage der Produktivität keine Rolle mehr. Deutliches Beispiel ist das Opel-Werk in Eisenach – mehrfach als produktivste Opel-Niederlassung in Europa ausgezeichnet. Der Verdienst der Arbeiter liegt mehr als zehn Prozent unter dem der Westkollegen. In jeder Tarifauseinandersetzung wird – hoffentlich ungewollt – die Mär vom faulen Ossi, der auch nach zehn Jahren das Arbeiten noch nicht gelernt hat, bestätigt. Und so kommt, was kommen muss. Auch die Generation von jungen Leuten, die DDR und BRD eigentlich nur noch aus Erzählungen und Dokumentationen kennt, zeigt ein ausgeprägtes Ossi-Wessi-Verhalten. „Zusammenfassend gesehen deuten die Vergleichszahlen von Ost und West nicht darauf hin, dass man von einem gelungenen Zusammenwachsen beider Landesteile reden kann. ... Von einer Vereinheitlichung der Jugenden in Ost- und West sind wir noch weit entfernt, die Fortschritte seit 1991 auf dem Weg dorthin eher geringfügig" – lautet die Schlussfolgerung in der Shell Jugendstudie (13. Shell Jugendstudie, 2000, S. 303).

3. 2. Im Osten für die Einheit – Interview mit Gregor Gysi

Ob man ihn und seine Partei mag oder nicht – Gregor Gysi, Fraktionschef der PDS im Deutschen Bundestag, ist vielen Deutschen auch im Westen ein Begriff. Als maßgeblicher Vertreter einer Partei, die im Westen kaum eine Rolle spielt, dafür aber im Osten vom Wähler Verantwortung in unterschiedlichen parlamentarischen Ebenen übertragen bekam, hat er einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Einheit.

 

INTERVIEW MIT GREGOR GYSI

Geführt am 27. April 2000 in Arnstadt im Anschluss an eine Wahlkundgebung

Haben die Differenzen zwischen Ost und West zehn Jahre nach der Deutschen Einheit zugenommen?

Also, ich habe nicht den Eindruck, dass die Differenzen zugenommen haben. Ich habe aber den Eindruck, dass sie bewusster geworden sind. Das heißt, man geht mit diesen Differenzen offener um und zwar die Ostdeutschen mit mehr Selbstbewusstsein. Die Unterschiedlichkeit war ihnen in den ersten Jahren ja eher unangenehm, inzwischen sind einige schon stolz darauf. Zum Teil schon ein bisschen überzogen, so nach dem Motto: Ich bin Ossi, wer ist mehr. Und bei den Westdeutschen besteht, leider auch durch entsprechende Information, zunehmend so ’ne Haltung, dass sie sich durch die Ostdeutschen etwas genervt fühlen. Nach ihrem Denken – erstens sind diese teuer, zweitens maulen sie dann auch noch ständig rum – und das führt natürlich zu einer gewissen Antihaltung. Da muss die Politik sehr aufpassen, dass solche Vorurteile nicht noch bedient werden.

Wie kann man in dieser Situation aufeinander zugehen?

Das erste ist, dass man sich füreinander interessiert. Sehr viel mehr Ostdeutsche haben Westdeutschland besucht als umgekehrt. Und das ist ein großer Mangel, Unkenntnis vertieft Vorurteile. Ich glaube mir zurechnen zu können, dass ich mich seit 1990 eben auch für den Westen interessiert habe. Ich war sehr viel dort, ich habe mit sehr vielen Leuten gesprochen. Und ich habe erst mal einfach nur zugehört, um ein Verständnis für ihre Sicht auf die Probleme zu bekommen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass man Bundespolitik macht, sonst geht das gar nicht. Du kannst im Bundestag nicht Regionalpolitik machen. Ich glaube, dass das auch meine Fraktion zunehmend gelernt hat, was eben auch dazu führt, dass unsere Akzeptanz im Westen wächst. Aber gewachsene Akzeptanz ist nicht gleichzusetzen mit Stimmengewinnen bei Wahlen. Ich habe das schon auf dem Parteitag gesagt, stellt euch vor, wir hätten 1990 versucht, in Münster einen Parteitag zu machen. Die Bürgerinnen und Bürger hätten uns glatt verjagt. Diesmal waren sie nicht gerade begeistert, aber sie haben es ausgehalten. Das ist ja schon eine beachtliche Veränderung.

Sehen sie eine Möglichkeit, dass diese Ost-West-Differenzen eines Tages denen der Nord-Süd-Differenzen gleichen?

In dem Moment, in dem es nur noch um Mentalitätsfragen und um gewisse Kulturfragen geht, kann das so sein. Aber die Voraussetzung, damit es nur noch solche Unterschiede sind, bei denen man sich einfach in der Identität, anders versteht – was ja überhaupt kein Problem wäre – besteht darin, dass wir endlich wirklich die Gleichstellung und die Chancengleichheit herstellen. Eine Abiturientin aus Thüringen muss überall die gleichen Chancen haben wie eine Abiturientin aus Bayern. Sie muss hier auch die gleiche Chance haben, zum Abitur zu kommen. Wir brauchen den gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Das gilt für Geschlechter genauso wie für Ost-West. Das alles sind wichtige Kriterien. Wir brauchen eine Beseitigung der Ungleichheit im Rentenrecht, in den Sozialleistungen, bei der Anerkennung der Berufsabschlüsse und ähnliches mehr. Diese Dinge müssen wirklich zügig angegangen werden. Die Bundesregierung verschiebt es leider auf den Sankt Nimmerleinstag. Ich halte das für einen großen Fehler.

Ihre Partei, die PDS, erhebt den Anspruch, eine Partei der Einheit zu sein, ist aber vom Erscheinungsbild eine Regionalpartei. Wie verträgt sich das?

Wir machen eine bundesweite Politik. Aber wir sind im Westen viel zu wenig verankert, das stimmt. Unsere Stärke liegt im Osten, und das ist auf der einen Seite eine Chance für die PDS, auf der anderen Seite ein großes Problem, da gibt es überhaupt nichts zu leugnen. Strukturell sind natürlich andere Parteien viel mehr gesamtdeutsche Parteien als wir. Ich meine aber, wir sind deshalb eine Partei der Einheit, weil wir am vehementesten für die Gleichstellung der Menschen in Ost und West kämpfen. Und ich behaupte, die Gleichstellung ist die Voraussetzung der Einheit. So lange die nicht da ist, werden sich die mentalen Unterschiede vertiefen. Sie können es heute einem Polizisten im Osten nicht mehr erklären, weshalb er 200 bis 300 Mark weniger für die gleiche Dienstausübung bekommt. Es ist ihm nicht mehr zu erklären. Das kann er ein Jahr akzeptieren, zwei Jahre akzeptieren, aber jetzt muss er es schon das zehnte Jahr akzeptieren. Und wahrscheinlich muss er es auch noch in fünf Jahren akzeptieren. Und das spaltet in Wirklichkeit, weil es auf beiden Seiten Vorurteile schafft. Da hat ja die CDU nicht ganz Unrecht, was weniger bezahlt wird, gilt auch als weniger wert. Und deshalb sage ich – das ist meine Logik – wer sich dagegen ausspricht, wer das geändert sehen will, tut etwas für die Einheit. Und wer diese Probleme nicht sehen will und deren Lösung ständig verschiebt, der, ob er das will oder nicht, leistet objektiv einen Beitrag zur Spaltung.

Wie begegnen Ihnen Ost-West-Differenzen in Ihrem ganz persönlichen Alltag?

Also ich bin ja mit einer Frau aus den alten Bundesländern verheiratet, somit habe ich diesen Alltag jeden Tag zu Hause. Ich meine, ich bin ja einer, der wirklich konkret was zur Deutschen Einheit getan hat, wir haben ja sogar zusammen ein Kind, also mehr kann man ja gar nicht leisten. Das hat sozusagen eine ost- und eine westdeutsche Herkunft. Selbst zu Hause stelle ich natürlich Mentalitätsunterschiede und Kulturunterschiede fest. Und ich ärgere meine Frau natürlich auch damit und sie mich. Generell sind es andere Dinge, mit denen sich Menschen im Westen abfinden und mit denen sie sich nicht abfinden, und wieder ganz andere, mit denen sich Menschen im Osten abfinden und nicht abfinden. Ich will ein Beispiel sagen: Für einen Ostdeutschen ist es immer noch schwer zu begreifen, wenn sie eine Reise im Reisbüro anbieten würden für sagen wir mal 15 000 Mark nach Australien. Da würde sich kein Westdeutscher darüber aufregen, obwohl es für 90 Prozent der Bevölkerung nicht infrage käme. Sie sind seit Jahrzehnten gewöhnt, dass etwas angeboten wird, was sie sich nicht leisten können. Die Ostdeutschen kennen, dass es etwas nicht gibt, das ist ihre Erfahrung. Aber dass es etwas gibt, was sie sich nicht leisten können, das ist nicht ihre Erfahrung. Sie würden sich über das Angebot aufregen, nicht, weil sie etwa nach Australien reisen wollen, sondern weil sie es als ungerecht empfinden, das etwas angeboten wird, das sie und all die Leute, die sie kennen, sich nicht leisten können. Das widerspricht ihrem Gerechtigkeitsgefühl. Aus solchen Dingen resultieren Unterschiede. In Ostdeutschland gibt es eine stärkere Versorgungsmentalität. Also ein stärkeres Bewusstsein, dass der Staat für soziale Sicherheit verantwortlich ist. Bei den Westdeutschen ist im Laufe der Jahrzehnte eher das Gefühl entstanden, selber dafür verantwortlich zu sein, sie setzen da weniger auf den Staat. Ich will das jetzt gar nicht bewerten, was die bessere Einstellung ist, ich will einfach nur auf diesen Unterschied hinweisen. Das alles wirkt sich dann auch in der Politik aus. Da das Geld in der DDR nicht sehr viel wert war, spielte es in den Beziehungen zwischen den Menschen eine geringere Rolle. Und das macht den Ostdeutschen am meisten zu schaffen, dass Geld plötzlich zu einer dominanten Frage in ihrem Leben geworden ist. Im Grunde genommen träumen wir Ostdeutschen von einer Welt, in der wir endlich eine Währung haben wie die D-Mark, die was wert ist, aber die dennoch unser Leben nicht dominiert. Das hinzukriegen, ist aber schwierig.

Sollte man die Differenzen nun alle beseitigen, oder gibt es auch Bewahrenswertes?

Es kommt darauf an welche. Also wir haben doch auch zum Beispiel ganz große Unterschiede zwischen Thüringerinnen und Thüringern oder Sächsinnen und Sachsen und Mecklenburgerinnen und Mecklenburgern. Was glauben Sie, wie unterschiedlich auch eine PDS-Veranstaltung in Mecklenburg und in Thüringen läuft. Das sind Mentalitätsunterschiede, und da kann ich nur hoffen, dass wir sie bewahren. Die einen sind viel ruhiger und langsamer, die anderen eben sehr viel lebhafter, sehr viel schneller. Das sind Unterschiede, die sind geradezu reizvoll. Wir Ostdeutschen, und ich wünsche mir, dass sich das auch Stück für Stück durchsetzt in den alten Bundesländern, wir haben ein anderes Gerechtigkeitsgefühl. Ich finde, eins, das nicht falsch geprägt ist. Die Westdeutschen haben sich viel zu sehr damit abgefunden, dass soziale Unterschiede auch grenzenlos sein können. Hier im Osten verlangt man immer noch, dass sie nachvollziehbar sein müssen. Es muss nachvollziehbare Gründe wie unterschiedliche Verantwortung, Qualifikation, Fleiß, Begabung etc. geben. In diesem Umfang sind auch soziale Unterschiede gerechtfertigt. Aber eben nicht so maßlos, wie das heute der Fall ist. Damit finden sich Ostdeutsche so schnell nicht ab, und das finde ich gut so.

Das Interview wurde am 27. April 2000 telefonisch durch Gregor Gysi autorisiert.

3. 3. Die Forschung im Spiegel des Alltags

Die Forschung sieht als ein zentrales Problem der deutschen Einheit die Tatsache an, dass westdeutsche Institutionen und westdeutsches Recht ohne Anpassung in den Osten transformiert wurden, dass die alten Bundesländer selbst die Chance der Einheit nicht für Reformen genutzt haben und somit in diesem Teil Deutschlands die Einheit tatsächlich oftmals nur als Akt des Zahlens verstanden wird. Auswirkungen auf den Alltag der Menschen hatte die deutsche Einheit nach Ansicht vieler Autoren hauptsächlich auf die ehemaligen DDR-Bürger. Diese Meinung, und das Bedauern darüber, findet man auch in den Aussagen von Gregor Gysi wieder. Er ergänzt diese nüchterne Bestandaufnahme allerdings nicht durch eine grundsätzlich skeptische Haltung in Bezug auf das künftige Zusammenwachsen, sondern setzt einen ganz klaren Akzent: Es kann nur zusammenwachsen, was auch gleich behandelt wird. Für ihn wie für die meisten Ostdeutschen besteht Einheit nicht darin, die gleichen Bananen kaufen zu können oder ins gleiche Hotel nach Mallorca reisen zu können wie die Mitdeutschen aus dem anderen Teil des Landes. Für sie Einheit darin, für die gleiche Arbeit auch gleiches Geld zu bekommen, die gleichen Entwicklungschancen zu haben – und irgendwann im Alter auch die gleiche Rente. Das aber, und da stimmt Gysi mit der Forschung überein, wurde bei aller staatlicher Einheit glatt vergessen. Er bringt das Beispiel mit dem Polizisten, dessen Arbeit sich von der des Westkollegen nicht unterscheidet, und es finden sich auch außerhalb des öffentlichen Dienstes genügend Bereiche, die zeigen, wie unsinnig und vor allem wie schädlich für die Entwicklung in Deutschland diese Unterscheidungen sind. Noch gravierender fällt das bei der Bundeswehr auf, wo noch nicht einmal mehr nach Herkunft unterschieden wird. Wer im Osten ausgebildet wird, erhält weniger Sold als im Westen – da soll man nicht auf die Idee kommen, dass es sich bei den neuen Bundesländern um ein unterentwickeltes Gebiet handelt, das weniger wert ist als andere Regionen. Es gibt ein erstaunliche Erkenntnis der Shell Jugendstudie, die eigentlich dazu angetan sein sollte, den (noch nicht vorhandenen) Zeitplan der Ost-West-Angleichung zu straffen: „Die Schwierigkeiten der Lebens- und Zukunftsgestaltung, die von vielen Jugendlichen in den östlichen Landesteilen konstatiert werden, ergeben sich .. nicht aus einer mangelnden Bereitschaft zu Anstrengung und Leistung. Sie erwachsen aus den ‚objektiv’ unterschiedlichen Lebensverhältnissen. Aufs Ganze gesehen sind die ostdeutschen Jugendlichen nämlich einsatzbereiter, höher motiviert und leistungsorientierter als die westdeutschen Jugendlichen" (13. Shell Jugendstudie, 2000, S. 17). Wird dieses Kapital verschenkt oder treibt man diese Jugendlichen dazu, nur wegen besserer Bezahlung für die gleiche Arbeit in den Westen „auszuwandern", dann arbeitet man wirklich gegen die Einheit.

Gysi widerspricht der Meinung, dass die Differenzen zugenommen haben. Andererseits sieht auch er den Rückzug auf die eigene Geschichte, auf die eigene Identität, die für viele mit der Einheit verloren gegangen ist. Er stimmt mit Wolf Wagner überein, dass kulturelle und Mentalitätsunterschiede nicht auf Dauer ein Hindernis für die Einheit sein werden. Aber, so brachte Gregor Gysi auf einer Wahlkundgebung deutlich als Kritik an den Regierungen Kohl und Schröder zum Ausdruck, die Tatsache, dass man noch in 40 Jahren anhand der Rentenberechnung sieht, wer ein Ossi und wer ein Wessi ist, diese Tatsache ist ein ganz wesentlicher Keil, der das Zusammenwachsen dessen, was eigentlich zusammengehört, behindert.

4. SCHLUSS

DDR – das stand vor etwas mehr als zehn Jahren nicht nur für Deutsche Demokratische Republik, sondern auch für: Der Dumme Rest. Trifft das heute auch noch zu? Haben die, die hier geblieben sind, die Zeichen der Zeit nicht erkannt?

Wir haben eine Nationalhymne, die wir nicht singen durften, gegen eine eingetauscht, die wir nur zum Teil singen dürfen. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt" – haben diese Zeilen nicht heute viel mehr Realitätsbezug als „Von der Maas bis an die Memel"? Das Hauptproblem der Deutschen Einheit ist für mich: Es war ein Beitritt, keine Vereinigung. Es hat auf oberster Ebene keine Rolle gespielt, was im Osten vielleicht bewahrenswert war. Das System hatte den Test nicht bestanden, also musste es verschwinden. In der Wegwerfgesellschaft ist es normal, dass man mit einer kaputten Kaffeemaschine auch die Kanne in den Müll wirft. Es ist richtig, dass auch der Neu-Bundesbürger viel dazu beigetragen hat, Teile seiner Identität auf den Müllhaufen der Geschichte zu schmeißen. Dennoch haben bestimmte Verhaltensmuster, bestimmt Ansichten überlebt, die es wert sind, Allgemeingut aller Deutschen zu werden. Kollegialität, Solidarität und Improvisationstalent waren nicht nur von Gruppenzwang, Staatsdoktrin und Mangelwirtschaft geprägt. Vielleicht gelingt es ja im Laufe eines noch lange andauernden Prozesses, dass vom Osten mehr als der Grünpfeil an manchen Ampelkreuzungen übrig bleibt. Die Voraussetzungen dafür sind nicht so schlecht, wie es uns die Forschung glauben macht. Schon gar nicht kann ich die Aggressivität finden, die etwa Rainer Bude dem Ost-West-Verhältnis unterstellt. Er erwartet Widerstand als Druckmittel im Zusammenhang mit der deutschen Einheit: „Wenn der Westen, so die Forderung, nicht in bisherigen Maße bereit ist, den Osten zu alimentieren, dann ist zwischen Werra und Oder mit Rechtsradikalismus, kollektiver Verstocktheit und noch anderen, möglicherweise gefährlicheren Formen sozialer Defensive zu rechnen" (Bude, 1999, S. 63-64). Ebenso, wie es durchaus viele Westdeutsche gibt, die wissen, dass auch im Osten der Solidaritätsbeitrag entrichtet wird, ebenso gibt es Ostdeutsche, die durchaus wissen, dass Geld nicht in unbegrenzter Menge zur Verfügung steht, um 40 Jahre einer andersgerichteten Entwicklung auf einen Schlag wettzumachen. Es gibt viel mehr Verständnis für die Probleme auf dem Weg zur wirklichen Deutschen Einheit, als manche Forscher und Politiker glauben mögen. Wenn in den vergangenen Monaten die Thüringer Fußballfans ihren Vereinen aus Erfurt und Jena die Daumen für den Einzug in die dritte Profiliga gedrückt haben, dann haben sie diese Daumen fast ausschließlich gegen andere ostdeutsche Vereine gedrückt. Das wird Ostdeutschland nicht spalten. Im Gegenteil, je mehr sich jeder in seiner Identität begreift, wird ihm auch der Blick für den Nachbarn aufgehen. In Ost- und Westdeutschland. Und in Europa. Denn die europäische Einigung, da müssen wir uns nichts vormachen, wird uns noch vor ganz andere Probleme stellen, als es die Einheit im eigenen Land vermag. Um die ist mir nicht bange, wenn es der Staat als Wegbereiter endlich schafft, Barrieren zu beseitigen. An der Basis – bei der Arbeit, im Verein oder in der neuen Wohnsiedlung – ist schon viel mehr zusammen gewachsen, als es die Forschung zu glauben vermag. Eine Zunahme von Differenzen, wie sie Heinz Bude in seinem Buch „Die ironische Nation" beschreibt, kann ich nicht entdecken, wohl aber ein stärkeres Bewusstsein dafür, dass es durchaus noch einige Differenzen gibt, die es schnell auszuräumen gilt. Und wie sagt der Volksmund: Einsicht ist der beste Weg zur Besserung.

Thomas Becker

April/Mai 2000

 

5. ANHANG

5. 1. So entstand diese Hausarbeit

16. April 2000: „HAUSARBEIT ??? Das wird doch nie etwas. Seitenweise schreiben, kein Problem. Aber wissenschaftlich herangehen? Wenn das mal kein Reinfall wird."

Das waren meine Gedanken vor dem Orientierungsseminar. Nach Abschluss der interessanten Woche in Berlin – siehe da: Wissenschaft muss nicht trocken sein – sehe ich alles ein Stück optimistischer. Aber jetzt sitze ich zu Hause, allein in meinem Arbeitszimmer, vor einer endlos erscheinenden Literaturliste, und sie sind wieder da, meine Sorgen. Finde ich die richtige Fachliteratur? Fasse ich den Bogen nicht viel zu weit? Wie soll ich etwas über einen Forschungsstand einschätzen, wo ich doch noch nie etwas mit Forschung zu tun hatte? Kann man 15 Seiten überhaupt mit einer wissenschaftlichen Herangehensweise füllen?

18. April 2000: Na gut. Andere haben es auch gepackt, stell dich nicht so an. Nach der ersten Bücherbestellung und dem Entwurf der Gliederung ist mir schon wohler. Immerhin ein Anfang. Also rasch das Angebot aus Berlin genutzt, E-Mail auf die Reise geschickt und . . .

28. April 2000: . . . ein paar Tage Osterurlaub in Südtirol gemacht. Zwar mit Büchern im Gepäck, aber ohne einen Blick hineinzuwerfen. Es war unwahrscheinlich wohltuend. Und ich habe noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Wieder in Deutschland, wieder online, da ist auch schon die Antwort von Jens Althoff. Mist, hatte ich mir doch schon gedacht. Zwar in echt nette, aufmunternde Worte verpackt, aber trotzdem ein Schuss vor den Bug. Klartext: Viel zu journalistisch, zu wenig wissenschaftlich. Fängt ja gut an. Also, Gliederung überarbeitet, vertrocknet sozusagen. Und zwischenzeitlich eifrig lesen, anstreichen, Notizen auf Karteikarten machen – die Tipps vom Seminar sind wirklich echt hilfreich.

2. Mai 2000: Wieder Post aus Berlin zu meiner Gliederung, diesmal von Gudrun Schneider-Nehls. Mist, die findet sie gar nicht schlecht. Unsicherheit. Soll ich jetzt wieder alles umschmeißen? Doch etwas mehr Schwung reinbringen? Nein, dazu fehlt mir der Mut, zumindest, was die Gliederung angeht. Auf jeden Fall habe ich gelernt: Schicke die Gliederung nie an zwei Leute! Ich fange an zu schreiben. (Fast) Jeden Wochentag eine Stunde zwischen acht und neun Uhr, bei Spätdiensten auch mal etwas mehr. Das muss reichen.

5. Mai 2000: Dumm, dass ich ausgerechnet jetzt an den Wochenenden arbeiten muss. Je mehr ich mich dem Ende der Einleitung nähere – und damit dem Anfang des wissenschaftlichen Teiles – umso größer wird meine Sorge. Aber es hilft nichts, da muss ich durch.

8. bis 12. Mai 2000: Die ersten Seiten schreiben sich ganz gut. Der Bruch kommt mit dem Forschungsstand. Was soll ich aufschreiben? Ich kann doch jetzt nicht bei allen Autoren nachschlagen und schauen, ob das, was Thomas Bulmahn über ihre Thesen sagt, auch stimmt. Also muss ich mich auf ihn verlassen. Er heißt Thomas, wie ich, da kann ich das vielleicht riskieren. Und eventuell finde ich noch irgendwo anders etwas zur Forschung. Ich weiß eins: Das nächste Mal schreibe ich eine Klausur. So schlimm kann die nicht werden. Was mache ich nur mit den Diskursen? Verknappe ich die Verknappung noch mehr? Fünf Seiten über den Forschungsstand – das ist bestimmt zu viel. Und so wenig von mir selbst darin! Aber jetzt kann ich es nicht mehr ändern. Wie war das jetzt mit dem Zitieren? Ich werde noch mal nach Berlin mailen müssen. Aber – gelernt ist gelernt: Nur eine Mail.

15. bis 18. Mai 2000: Es läuft wieder besser. Die Forschung ist erledigt, jetzt kann ich mich stärker einbringen. Da macht schreiben auch Spaß. Ach, schon auf Seite zwölf?! Hätte ich nicht gedacht, dass ich so weit komme. Nun noch das Interview bewerten – das hat ganz schöne Lücken. Es wäre besser gewesen, ich hätte mich vor dem Gesprächstermin mit der Forschung beschäftigen können, dann wären konkretere Fragen möglich gewesen. Aber die Verlockung, mit Gysi sprechen zu können, war zu groß, auch wenn durch die Kurzfristigkeit kaum eine vernünftige Vorbereitung möglich war. So jemand ist nicht alle Tage in Arnstadt.

19. Mai 2000: Jetzt kommt der Schluss. Für mich macht es den Eindruck, als wäre es eine ganz runde Sache geworden. Es ist ja immerhin mein Premierenwerk. Und ich habe sogar noch eine gute Woche Zeit, alles noch einmal in Ruhe durchzuarbeiten. Alles in allem habe ich weniger als drei Wochen gebraucht – das habe ich nicht erwartet. Aber es war eine ganz schöne Knochenarbeit, so mit dem Job nebenbei. Aufwendige Recherchen kann ich mir glaube ich nicht leisten, da klappe ich irgendwann zusammen. Ich hoffe, dass ich bis zur Abschlussarbeit genug in der Arbeitsweise drin stecke, um das riesige Pensum bewältigen zu können. Auf jeden Fall habe ich das Gefühl, das Studium doch zu packen. Mal sehen, wie lange es anhält. Spätestens bis zur nächsten Hausarbeit. Oder zur Bewertung dieser Zeilen. 20. Mai 2000: Nochmals alles gelesen. Herbert Grönemeyer – einer meiner absoluten Lieblingsinterpreten – singt in „Mein Konzert": Das ist alles, was ich habe, was ich geben kann. Dem möchte ich mich bezüglich des vor diesen Zeilen liegenden Werkes in vollem Umfang anschließen, auch wenn ich jetzt sagen nicht kann, auf welcher seiner Platten dieses Lied zu finden ist. Es ist mir jedenfalls auch ohne exakte Quellenangabe im Gedächtnis geblieben.

 

 6. LITERATURLISTE

Heinz Bude, Die ironische Nation, Hamburg, Hamburger Nation, 1999.

Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 29-37, in: Reader/JWB-Materialien Nr. 83: Grundlagen deutscher Geschichte und deutschen Geschichtsbewusstseins im 19. und 20. Jahrhundert, Kapitel 8, Berlin, Freie Universität Berlin, 2000.

Konrad Weiß, Verlorene Hoffnung der Einheit, in: Hermann Glaser, Deutsche Kultur: Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung, 1997, S. 438.

Deutsche Shell (Hrsg.), Jugend 2000 13. Shell Jugendstudie, Opladen, Leske+Budrich, 2000.

Hans-Joachim Maaz, Das gestürzte Volk, Berlin, Argon, 1991.

Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1999, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung, 2000.

Wolfgang Fach, Die Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland: Eine Zwischenbilanz, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 31.

Kurt Biedenkopf, Die neuen Bundesländer: Eigener Weg statt „Aufholjagd", in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 31.

Barbara Riedmüller, Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland – Interessenlagen und Interessengruppen, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 31.

Dieter Klein, Eine mehrdimensionale, kritische Deutung der ostdeutschen Transformation, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 31-32.

Rudolf Woderich, Eigensinn und Selbstbehauptung in der Lebenswelt, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 32.

Wolfgang Thierse, Spiegel-Streitgespräch: Wolfgang Schäuble und Wolfgang Thierse über Fehler und Probleme im Umgang zwischen Ost und West, in Hermann Glaser, Deutsche Kultur: Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung, 1997, S. 436.

Helmut Wiesenthal, Die neuen Bundesländer als Sonderfall der Transformation in den Ländern Osteuropas, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 32.

Detlef Pollak, Alles wandelt sich, nur der Ossi bleibt stets der gleiche?, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 32.

Wolfgang Thierse, Fremde im eigenen Land. Nach der Einheit die Entfremdung?, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 32.

Gerhard Lehmbruch, Institutionen, Interessen und sektorale Variationen in der Transformationsdynamik der politischen Ökonomie Ostdeutschlands, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 33-34.

Christine Landfried, Achitektur der Unterkomplexität: Politische Willensbildung und Entscheidungsstrukturen im Prozess der deutschen Einigung, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und

Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 34.

Wolfgang Seibel, Nicht-intendierrte wirtschaftliche Folgen politischen Handelns. Die Transformationspolitik des Bundes in Ostdeutschland seit 1990, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 34.

Klaus Müller, Der osteuropäische Wandel und die deutsch-deutsche Transformation. Zum Revisionsbedarf modernisierungstheoretischer Erklärungen, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 35.

Klaus von Beyme, Verfehlte Vereinigung – verpaßte Reformen? Zur Problematik der Evaluation der Vereinigungspolitk in Deutschland seit 1989, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 35.

Wolf Lepenies, Folgen einer unerhörten Begebenheit: Die Deutschen nach der Vereinigung, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 35.

Wolfgang Dümcke/Fritz Vilmar, Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Fritz Vilmar/Wolfgang Dümcke, Kritische Zwischenbilanz der Vereinigungspolitik – Eine unerledigte Aufgabe der Politikwissenschaft, in: Thomas Bulmahn, Vereinigungsbilanzen, Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 35.

Wolf Wagner, Kulturschock Deutschland, in: Reader/JWB-Materialien Nr. 83, Grundlagen deutscher Geschichte und deutschen Geschichtsbewusstseins im 19. und 20. Jahrhundert, Kapitel 9, Berlin, Freie Universität Berlin, 2000.

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