Schlag nie nach einer Wespe!

 

2.30 Uhr. Mitten in der Nacht. Es ist stockdunkel draußen, nicht einmal die Sterne sind zu sehen. Eine trockene Kehle lässt Faragh aufschrecken. Mit seinem 16 Jahren hätte er wohl doch noch nicht so viel Alkohol trinken sollen. Aber es war eine tolle Party. Vor allem Synada war begeistert, nicht nur von dem großen Pool in seinem Elternhaus, sondern auch von ihm.

Nun, wenn Faragh ehrlich war, hat es ihn ohnehin schon lange gewundert, warum die Mädchen nichts von ihm wissen wollen. Gewiss, seine Ohren waren ein wenig größer als die der anderen, aber ansonsten war er doch ein ganz stattlicher Kerl. Und intelligent war er auch, das hatte er von seinem Vater, der als weltweit bester Mikrokosmologe bekannt und geschätzt war.

Ach ja, Synada. Ob sie jetzt wohl auch so eine trockene Kehle hat?

Gestern Abend war es fast zum ersten Kuss gekommen, aber der blöde Kyrt hatte sie gestört. Er war wohl eifersüchtig. Verständlich schon, auch ihn hatte es schließlich immer gewurmt, wenn seine schöne Klassenkameradin mit anderen, meist älteren Mitschülern geflirtet hatte. Deshalb war auch seine Freude groß, als sie sofort auf seine Einladung reagierte. Die Eltern waren für eine Woche verreist, und so eine Chance kann man sich doch nicht entgehen lassen.

Dass sie dann nicht über Nacht geblieben war, stimmt Faragh schon etwas traurig. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Jetzt ist aber erst einmal die trockene Kehle wichtig. Oder besser gesagt, etwas dagegen zu tun. Müde tappt er die Treppen hinunter in die Küche. Auf der letzten Stufe kracht es. In hohem Bogen fliegt Faragh durch die Luft. Beim Versuch, sich abzufangen, knallt er gegen die Wand, dann landet er unsanft auf dem Boden. Das tut weh. Langsam rappelt er sich auf, sieht, dass er über einen Stein gestolpert ist.

Wer zum Teufel legt einen Stein auf die Treppe? Seine Augen gewöhnen sich ans Licht, und so erblickt Faragh ein Blatt Papier, das neben dem Stein liegt. Darauf gekritzelt ein paar Worte, die, das erkennt er sofort, von Synadas Hand stammten. „Lieber Faragh, der Abend mit Dir war sehr schön. Ich möchte gern mehr Zeit mit Dir verbringen. Komm doch übermorgen zu mir, meine Eltern sind dann bei meiner Oma. Dann machen wir eine Feier nur für uns beide. Liebe Grüße, Deine Synada."

Mann, das ist ein Hammer. So schnell schon so kurz vorm Ziel seiner Träume. Da spielte doch ein trockener Mund gar keine Rolle mehr. Faraghs Herz machte Sonderschichten. Wie benebelt steht er auf, stützt sich dabei an die Wand – aber die ist gar nicht da. Das heißt, eigentlich schon, aber an der Stelle eben nicht. Die eigentlich dort befindliche Wandtafel war nach unten geklappt, am Ende des dahinter befindlichen Hohlraumes sieht Faragh ein Zahlenfeld. Mehr aus einer Eingebung als aus einer Überlegung heraus gibt er sein Geburtsdatum ein, neben dem Loch in der Wand öffnet sich ein zweites, nämlich in Form einer Tür.

DAS LABOR SEINES VATERS! Wie lange hatte er sich gewünscht, da einmal hineingehen zu dürfen. Und jedes Mal hatte sein Vater ihn auf den Zeitpunkt vertröstet, wenn er die Volljährigkeit erreicht, weil er vorher noch gar nicht in der Lage wäre zu verstehen, was dort abläuft. Es war immer wieder ein Theater, wenn sein Vater das Labor betreten oder verlassen wollte. Faraghs Mutter setzte sich dann mit ihm in die Küche, damit er auch ja nichts sah. Er hatte sich zwar gewundert, wie sein Vater die Tür denn aufbekommt. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich an alles, und wenn man einmal akzeptiert hat, dass etwas unerreichbar ist, dann stört es auch nicht mehr.

Aber jetzt! Jetzt ist natürlich alles anders. Faragh ist hellwach, die Gelegenheit kann er sich nicht entgehen lassen. Gewissensbisse sind es nicht, die den Jungen zögern lassen, die heiligen Hallen zu betreten. Vielmehr quält ihn die Frage, ob er nicht noch einmal bei Synada anrufen sollte und sie her bitten, um mit ihr gemeinsam das Geheimnis zu lüften, das sein Vater um seine Arbeit machte. Er würde gerne noch mehr mit ihr teilen, als nur dieses Geheimnis, aber das stand wohl noch nicht zur Debatte. Jedoch – Mädchen galten im Allgemeinen als schwatzhaft, und auch wenn er diese Eigenschaft bei Synada noch nie festgestellt hatte . . .

Nun, man kann ja nie wissen, und außerdem ist er viel zu neugierig darauf, was ihn am Ende des abwärts führenden Ganges so erwartet, dass er keine Zeit mehr verschwenden will. Also, Mut gefasst und drauf los gegangen. „Wusch" macht es hinter ihm, dann war die Tür zu. Mancher seiner Klassenkameraden hätte bestimmt jetzt schon die Panik bekommen, nicht aber Faragh.

Was war schon passiert? Bestimmt ist da irgendwo ein Sensor für Öffnung und Schließung der Tür. Faragh geht zwei Schritte zurück – und tatsächlich, die Tür öffnet sich, als habe er ein geheimes Lösungswort gesprochen. Schnell geht er wieder in Richtung des anderen Gang-Endes, das „Wusch" hinter sich gar nicht mehr wahrnehmend.

Er kommt auf eine Tür zu, die sich ebenso wie von Geisterhand vor ihm öffnet – und er bleibt stehen, als sei er vor eine Wand gerannt. Ein großer Raum tut sich vor ihm auf, fast völlig dunkel bis auf ein paar leuchtende Punkte am gegenüber liegenden Ende. Rechts von ihm steht ein Computer, der, das erkennt Faragh sofort, irgend etwas mit der Steuerung der in der Luft schwebenden Kugeln und der Projektionen, die überall auf den schwarzen Wänden zu sehen sind, zu tun hat. Faragh hat zwar die große Begeisterung seines Vaters für Physik nicht geerbt, aber dass es sich hier um ein künstliches Schwerefeld handelt, weiß er sofort. Natürlich muss es sich dabei um das Schwerefeld handeln, das es erlaubt, sich zwischen schwebenden Gegenständen zu bewegen, ohne darauf Einfluss auszuüben. Sein Vater hatte es in einer Jahrzehnte dauernden Arbeit entwickelt, hatte Faragh in den Nachrichten gehört. Vater sprach nie über seine Arbeit.

Nun aber, da er die Chance hat, sich selber ein Bild von den Ergebnissen dieser Arbeit zu machen, kann sich Faragh dem Reiz des Unbekannten nicht mehr entziehen. Vorsichtig nähert er sich den Kugeln, die auf den ersten Blick unbeweglich im Raum schweben. Grellgelb und einige Wärme ausstrahlend, nimmt eine große Kugel die Mitte der Konstruktion ein. Weiter hinten sieht Faragh mehrere mittelgroße Kugeln, aber am meisten tut es ihm ein blauer Ball an, der nicht weit von ihm in der Luft hängt. Die Farbschattierungen sind einfach faszinierend, ein Meisterwerk. Fast scheint es, als würden sich die weißen Farbbestandteile gegeneinander verschieben. Um das besser sehen zu können, tritt Faragh einen Schritt näher.

„Ssssiffff" tönt es an seinem Ohr. „Ssssiffff" noch einmal. Faragh hält inne. Eine Wespe taucht kurz vor seinem Auge auf. Wenn es etwas gibt, das Faragh nicht ausstehen kann, dann sind es Wespen. Noch dazu, da er gegen ihr Gift allergisch ist, und eine Atemnot nach einem Stich kann er hier im Labor wahrlich nicht gebrauchen. Nun, still halten, vielleicht fliegt sie ja weg. Sie muss wohl mit ihm durch die Tür gekommen sein, denn im Labor gab es kein Fenster. „Ssssiffff" – da ist es wieder, diesmal am linken Ohr. Faragh kann die Wespe jetzt sehen. Es scheint, als sammle sie ihre Kräfte für den Angriff, nachdem sie ihr Ziel sondiert hat. Aber Faragh will sich nicht einfach so geschlagen geben. Er hebt vorsichtig die Hand an. Die Wespe fliegt noch einmal einen Bogen, dann kommt sie auf dem direkten Weg heran. Faragh reagiert blitzschnell, versetzt dem Vieh einen Schlag mit dem Handrücken. Getroffen!

So ein Mist! Nicht nur die Wespe hat einen abbekommen, mit dem Ellenbogen ist Faragh auch dem schönen blauen Ball zu nahe gekommen. Er trifft ihn zwar nicht direkt, aber dafür die neben ihm befindliche graue Kugel, die wiederum prallt auf den blauen Ball und beide schweben nun in Richtung der gelben Kugel. Da ist es dann doch zu Ende mit Faraghs Beherrschung. Er verlässt fluchtartig den Raum, eilt in sein Zimmer und deckt sich bis über den Kopf zu. So hatte er es als kleines Kind immer getan, wenn ihm irgendeine Dummheit unterlaufen war. Eine Viertelstunde liegt er so, dann wird ihm klar, dass er kein kleines Kind mehr ist. Und dass das Verstecken unter der Bettdecke auch damals schon nicht geholfen hatte. Schweren Herzens steht er auf, geht ans Telefon und ruft seinen Vater an. Immerhin hatte der ihm oft genug gesagt, dass man zu seinen Fehlern stehen muss. Und da ist es besser, ihm alles zu beichten, wenn er ihm nicht von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht. Bis das geschieht, ist der schlimmste Zorn vielleicht schon verraucht?!

Als alles gebeichtet ist, kommt es Faragh vor, als habe er ein paar Kilo abgenommen. Lange Zeit schweigt sein Vater. Dann klingt seine Stimme viel vernünftiger und ruhiger, als Faragh zu hoffen gewagt hatte. Es sei zwar ärgerlich, aber nicht so tragisch, hört er. Das eigentliche Experiment sei schon lange abgeschlossen, da die neue Art des künstlichen Schwerefeldes, die er entwickelt hatte, ja inzwischen in der Praxis angewendet wird. Das Experiment im Labor sei die letzte Teststufe gewesen, vernimmt Faragh voller Erleichterung von seinem Vater, und eigentlich habe er die Versuchsanordnung nur laufen lassen, weil sein Kollege Jah-We einen Langzeittest mit mutierten Bakterien gestartet hatte, der Ende nächsten Jahres auslaufen sollte. Aber auch da seien schon viele Daten gesammelt, außerdem gebe es auf diesem Gebiet noch viele weitere Experimente mit ähnlichen Anordnungen. Voller Erleichterung legt Faragh auf und begibt sich ins Bett. Nur einmal wacht er auf, weil er von den Bakterien geträumt hat, die jetzt wohl mit der heißen gelben Kugel kollidierten.

 

 

Überall auf der Erde feiert man die Jahrhundertwende. Das Jahr 1900 und die Jahre, die darauf folgen, sollen großen technischen Fortschritt und Wohlstand für alle mit sich bringen, da ist man sich einig. Es ist kurz vor Mitternacht in Mitteleuropa, und wer kann, der steht vereint mit seiner Familie oder Freunden und wartet mit dem Sektglas in der Hand auf den Gongschlag, der die neue Zeit einleitet. Kaum einer sieht, wie ein dunkler Schatten den Mond aus seiner Bahn wirft und auf die Erde schleudert. Und niemand versteht in den letzten Sekunden seines Lebens, warum die blaue Kugel aufreißt, aus ihrer Bahn gerissen und von der Sonne verschlungen wird. Nicht einmal die Bakterien überleben das Inferno.

 

Thomas Becker

Arnstadt, Juli 2000

 

Alle Recht beim Autor.

 

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