Ihr habt die Wahl

 

„Deutschland wird künftig von der erstmals zur Wahl angetretenen Partei der Mitte regiert." Francesco di Pensino glaubt seinen Ohren nicht zu trauen. „Mach lauter", schreit er zu seiner Frau Angelina in die Küche. Sie dreht die Nachrichten im Radio auf. Irgend etwas von 59 Prozent hört Francesco mit den letzten Worte des Außenreporters. Er traut sich nicht, auch nur einen Schritt zu gehen, er könnte durch das Knarren der Dielen ja etwas verpassen. Dann wieder die Stimme der Studiomoderatorin. „Mit deutlichem Abstand auf die Partei der Mitte kam der linke Block auf den zweiten Platz, 28 Prozent erzielten die beiden dort angetretenen Parteien. Ein völliges Debakel musste die Koalition der drei im rechten, konservativen Spektrum angesiedelten Parteien hinnehmen, die mit insgesamt neun Prozent in der Bedeutungslosigkeit verschwanden." Francesco ist erschüttert. Angelina hat aufgehört, den Nudelteig zuzubereiten, sie kommt, sichtlich fassungslos, aus der Küche. „Und was nun?", fragt sie mit zittriger Stimme. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten" – selbst Francescos sonst brummiger Bass ist von merkwürdigen Schwingungen unterlegt. „Entweder, wir passen uns an, oder aber wir wandern aus". Schweigen. „Ich will nicht zurück nach Italien", sagt Angelina. Francesco kann sie verstehen. Seit das Land ihrer Väter im Jahr 2073 aus dem europäischen Block ausgeschieden ist und sich der islamischen Mittelmeer-Förderation angeschlossen hat, ist nicht mehr viel, wie es früher war. Nicht, dass die persönlichen Freiheiten eingeschränkt wurden. Nein, das war es nicht. Nur – mit der arabischen Sprache kam er einfach nicht klar, und an die Kamele im trockengelegten Venedig konnte er sich auch nicht gewöhnen.

Also bleiben und anpassen. Aber würden sie das schaffen? Sein Papa war immer stolz darauf gewesen, dass sich sein Francesco einen Standpunkt bewahrt hatte. „Du kannst Deinen Weg nur gehen, wenn die anderen wissen, was sie von dir zu halten haben", hatte der alte Cippolino immer gesagt. Nun war er schon fünf Jahre tot. Zum Glück, denkt sich Francesco. Den heutigen Tag, dieses Wahlergebnis, das hätte er nicht überlebt. Links oder rechts, das war Cippolino eigentlich relativ egal gewesen. Nur diese Unentschlossenen, die immer abwartenden und nie Stellung beziehenden Leute der Mitte hatte er nie ausstehen können. Auch nie ausstehen müssen, denn bisher war die Entscheidung immer auf eine andere Art gefallen. Aber das Ergebnis war deutlich. Da konnten Francesco und Angelina und die wenigen, die sich noch für die rechte, die konservative Strömung entschieden hatten, nicht einmal auf einen Irrtum hoffen. Oder darauf, dass die erste Hochrechnung immer nicht so genau war. Erledigt! Aus und vorbei! Die Partei der Mitte? Mann, die hatten sich doch gerade vor einem halben Jahr erst gegründet. Gerade noch rechtzeitig, um überhaupt noch zur Wahl zugelassen zu werden. Wegen der Kürze der Zeit hatten sie noch nicht einmal ein richtiges Programm. Und Leute, mit denen man sich identifizieren konnte, auch nicht. Aber sie haben sich einfach hingestellt, und gesagt: „Lieber Wähler! Warum soll immer wie bisher eine rechte oder eine linke Partei gewinnen? Deren Standpunkte sind so weit auseinander, da können die doch nie auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Erst regieren die einen ein paar Jahre und stellen ein paar Gesetze auf. Dann regieren die anderen und drehen sie wieder um. Und warum? Weil sie in ihren Positionen viel zu weit voneinander entfernt sind! Wir dagegen, wir sind in der Mitte. Wir können mit den einen, und wir können mit den anderen. Wir können schnell auf jedwede Strömung reagieren und dagegen ansteuern, wenn links oder rechts etwas aus dem Ruder läuft, wenn das Gleichgewicht nicht mehr stimmt."

Francesco könnte heulen vor Wut. Mit solchen platten Parolen, ohne jeden Inhalt, hatten die doch tatsächlich die Wahl gewonnen. Und konnten auch noch allein regieren. „Ich weiß schon", sagt er zu Angelina, „worauf das hinaus läuft. Die werden alles angleichen. Alles, was irgendwie geht, in die Mitte ziehen. Und was werden wir davon haben? Nichts! Nur Chaos! Es wird nicht mehr vorwärts gehen, alles tritt auf der Stelle, und das nur, weil sie die Möglichkeiten der Mitstreiter auf der rechten und der linken Seite nicht mehr nutzen." Gemeinsam gehen beide ins Wohnzimmer, schalten den Videotext ein. Die Zahlen lassen keinen Zweifel, die Partei der Mitte hat einen erdrutschartigen Sieg errungen.

Francesco schaltet um auf die Nachrichten. Gerade endet der Kommentar zum Wahlausgang. „Deutschland hat entschieden. Nach der Änderung des Wahlsystems wurde auch das komplette politische System über den Haufen geworfen. Ob die Abschaffung der Stimmzettel eine kluge Idee war, wird die Zukunft zeigen. Jedenfalls haben wir ein Ergebnis, dass eigentlich schon seit Ende des zweiten Jahrtausends vorauszusehen war". Francesco holt tief Luft. Auch er hatte ein schlechtes Gefühl gehabt, damals, als das Wahlsystem geändert wurde.

Aber wieder einmal hat sich die Autolobby durchgesetzt. Die erste Wahl, bei der die Autofahrer allein durch das Benutzen einer Fahrspur auf dreispurigen deutschen Autobahnen ihre Stimme abgaben, war Geschichte. Und er, der sich, wie es einst die deutschen Gesetze vorgeschrieben hatten, auf der rechten Fahrspur aufhält, wenn er nicht gerade überholt, er gehört zu den Verlierern.

 

Thomas Becker

August 2000

 

Alle Rechte beim Autor.

 

Nach oben
Die Wespe
Herrscher der Welt
Glaub Dir nicht!
Ihr habt die Wahl
Traumzeit

Gästebuch   Impressum

 

Homepage   Familie    Reise-Links    Meine Reisen    Venezuela    Coole Seiten   Short-Storys

Ich bin nicht verantwortlich für die Inhalte externer Internetseiten (siehe Impressum).
Bei Anregungen oder Kritik E-Mail an: thbecker@thbecker.de