Die Herrscher der Welt

 

Eine nicht ganz so kurze Kurzgeschichte

 

21. Juni 1981

Es war noch kein Krieg. Aber es fehlte nicht mehr viel. General Napoleon hatte alle Einzelheiten schon exakt im Kopf, den ganzen Plan, wie er mit seinen Truppen am Ende siegreich aus dem Gemetzel hervorgehen würde. Denn ein Gemetzel würde es in jedem Fall geben, wenn im größten aller Kriege die Streitkräfte aufeinander trafen. Bis dahin gab es aber noch einiges zu tun. Zum einen galt es, die Seestreitkräfte zu inspizieren, was in zwei Tagen fällig war. Nicht dass sich Napoleon Illusionen hingab, dem Feind auf dem Wasser überlegen sein zu können. Nein, dazu war dessen technischer Fortschritt zu groß. Aber wer die Welt erobern will, der muss in der Lage sein, seine Truppen überall hin zu bringen. Das war zu Land nicht möglich, und der Luftweg schied aus, weil einfach zu große Massen zu bewältigen waren. Allerdings – durch die Luft konnte man zumindest Kundschafter verschicken, Voraustrupps, die Gleichgesinnte hinter dem großen Teich rekrutierten und so den Boden bereiteten. Aber das war ja schon lange geschehen.

„Ich grüße die Herrscher der Welt!" Lautstark polternd wie immer – und verspätet wie immer – trat Admiral Nelson ein. „So weit ist es wohl noch nicht", brummte Napoleon. Nelson hatte einfach keine Manieren, seufzte er in sich hinein. Aber er war nun einmal das Genie auf dem Gebiet der Schifffahrt, und bis er keinen Besseren fand, musste der General mit dem ungehobelten Burschen klar kommen. Da gefiel ihm Wallenstein schon viel besser. Der Generalfeldmarschall war nicht nur ein Diplomat der hohen Schule, er verstand sich auch darauf, Truppen strategisch zu verteilen, um mit möglichst geringem Aufsehen eine große Streitmacht in Stellung zu bringen. Logisch, dass Wallenstein auch Napoleons Stellvertreter war und berechtigte Ansprüche darauf hatte, unter dem späteren Weltherrscher der zweite Mann im Staate und vielleicht sogar Präsident der wichtigsten Provinz, nämlich Nordamerikas zu sein. Von dort aus würden sie den Krieg über die Welt tragen, den Gegner vom Antlitz der Erde tilgen. Aber, wie hatte Napoleon gerade erst zu Nelson gesagt: So weit ist es wohl noch nicht.

Und so weit war es tatsächlich noch nicht ganz. Knapp elf Monate waren vergangen, seit der große Plan in Napoleons Kopf zu reifen begonnen hatte. Das heißt, eigentlich nicht in seinem Kopf, aber das wussten nur die wenigsten seiner engsten Vertrauten. Seitdem hatte er kluge Mitstreiter um sich geschart, die besten Strategen, die der Kontinent hervorgebracht hatte. Natürlich konnten sie ihm nicht das Wasser reichen, aber gemeinsam mit ihm waren sie in der Lage, die Welt zu erobern. Die Anfänge dazu waren getan. Ganz heimlich, unbemerkt vom Gegner, hatten sie eine riesige Zahl von Anhängern um sich geschart. Quasi im Untergrund bereiteten sie sich vor auf den großen Tag. Vor einem halben Jahr hatten sie begonnen, sich auszubreiten. Truppenquartiere wurden errichtet und bezogen, in den verschiedensten Größen, alles getreu dem Motto, so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen. Natürlich blieb es nicht aus, dass manche der Keimzellen entdeckt und unschädlich gemacht wurden. Zum Glück war der Feind nach wie vor der Meinung, es jeweils mit Einzelaktionen militanter Gruppen zu tun zu haben. Vielleicht konnte er sich aus den Truppenkonzentrationen auch gar keinen richtigen Reim machen. Wichtig war, dass das Thema nicht in der Öffentlichkeit verbreitet wurde, so dass auch bisher niemand auf die Idee gekommen war, Zusammenhänge zwischen den einzelnen Brennpunkten zu suchen. Nur dann, davon waren Napoleon und seine Kumpane überzeugt, konnte man – eine sofortige Reaktion vorausgesetzt – ihren Siegeszug noch stoppen. War die Lawine erst einmal ins Rollen gekommen, gab es niemanden mehr, der sich ihnen in den Weg stellen konnte. Dafür waren sie inzwischen viel zu gut ausgerüstet, viel zu gut motiviert und schlicht und einfach viel zu zahlreich.

Auch eine Opposition aus den eigenen Reihen fürchtete Napoleon nicht. Nicht mehr, um genau zu sein. Da gab es vor einem Vierteljahr einen Umsturzversuch. Lenin und Aristoteles hatten eine kleine Gruppe von Aufständischen um sich gesammelt. Sie hatten sich durch einen klugen Kopf namens Leonardo da Vinci Zugang zum Hauptquartier verschafft, dort eine Bombe installiert. Sie hofften, so den von ihnen bevorzugten Weg der Koexistenz einschreiten zu können. Nun, es hatte die Aufrührer alle den Kopf gekostet, dass die Bombe fünf Minuten zu spät explodierte. Nur Eisenhower, das Strategie-Genie, war dem Attentat nicht entkommen. Er war im Besprechungsraum geblieben, um den provisorischen Schlachtplan, der an diesem Tag Gestalt angenommen hatte, einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Ein herber Rückschlag, aber keine Katastrophe für Napoleon. Wallenstein war genau der richtige Mann, um die Lücke zu schließen. Es hatte sie drei Monate gekostet. Aber Zeit war nicht ihr Problem.

 

17. April 1967

Die Nacht lag schwer über Nevada. Zusätzlich zum Neumond haben sich noch dicke Gewitterwolken eingefunden, um auch die letzten Himmelslichter zu verdecken. Die düstere Stimmung hat von allen im Bunker Besitz ergriffen. „Noch zehn Minuten!", hallt die seelenlose Computerstimme durch den kahlen Raum. Noch zehn Minuten, dann wird wieder einer dieser heftig umstrittenen Atombombentests Geschichte sein. Daniel Brubaker schüttelt sich kurz. So ganz kann er die Beklemmung wohl nie ablegen. Muss es wohl auch nicht. Wer weiß, vielleicht ist es ja der letzte Test.

Die Meinung der Bevölkerung war schon lange umgeschlagen. Anfangs hatten alle gejubelt. Atomwaffenmacht, das war schon was. Dann aber gab es die ersten Fehler, Radioaktivität entwich. Plötzlich waren es nicht mehr nur Japaner, die von den Strahlen getötet wurden. Brubaker erinnert sich gut an die heißen Debatten im Kongress. Was man damit entfesselt habe, ob das Atom überhaupt beherrschbar sei, und so weiter und so fort. Einige versteiften sich tatsächlich darauf, dass eines Tages die Menschheit durch Atomwaffen vernichtet wird. Ha, einfach lächerlich. Erstens gab es dafür gar nicht genug Atombomben, und außerdem – wer sollte schon ein Interesse an der Vernichtung der Erde haben. Abschreckung, das war der ganze Sinn, und zur Abschreckung dienten auch die Atomwaffentests. Wissenschaftlich war eigentlich alles klar. Und beherrschbar – wer sollte das besser wissen als Daniel Brubaker, der zusammen mit Oppenheimer in Los Alamos gearbeitet hatte. Aber abschreckend wirkten die Tests inzwischen leider auch auf die eigene Bevölkerung. Er war ja von Anfang an dagegen gewesen, solche Versuche im eigenen Land zu machen. Aber wie die Militärs nun einmal sind. Sie hören nicht auf die Wissenschaftler. „Ins Ausland können wir nicht gehen. Die Gefahr, dass uns jemand die Bombe klaut, ist viel zu groß", klingt in seinem Geist ihr Hauptargument. So ein Schwachsinn. Wer soll die schon klauen. Die Russen haben selber Atomwaffen, die Chinesen auch. Ihm wäre es am liebsten, man geht damit in die Sahara. Eine schöne große Wüste, die paar Nomaden kann man entschädigen. Aber nein, die Militärs hatten sich wieder durchgesetzt. Idiotischerweise auch noch mit dem Argument, dass Auslandstests zu teuer wären. Jetzt gibt es vielleicht bald gar keine Tests mehr. Die Wahlen stehen bevor, die Demokraten sind gegen weitere Versuche, und die Meinungsumfragen sehen sie meilenweit vorn. „Noch drei Minuten!" – Brubaker schrickt aus seinen Gedanken. Er konzentriert sich auf die Computer. Von dem heutigen Test verspricht er sich einiges, auch wenn er ein gewisses Kribbeln nicht verheimlichen kann. Noch nie gab es einen Test, bei dem eine Atombombe durch die Explosion einer anderen Atombombe gezündet wird. Es war seine Idee, und darauf ist Daniel Brubaker ein bisschen stolz. Auch wenn ihm und seinen Kollegen nicht so ganz klar ist, was denn nun genau passiert. Gibt es einfach zwei Explosionen? Werden die Auswirkungen verstärkt oder in gewissen Bereichen abgeschwächt? Nun, in zwei Minuten werden sie mehr wissen. Sicherheitshalber war der Test noch weiter nach draußen in die Wüste verlegt, der Sperrgürtel erweitert worden. „Noch eine Minute!" – gleich ist es soweit. Der Sekundenzeiger macht sich wieder auf den Weg. Die letzten Sekunden werden von allen im Bunker laut mitgezählt, um die Anspannung zu mindern, die Besitz von ihnen ergriffen hat.

„GO!" Das Licht der ersten Bombe wird auf die Bildschirme übertragen. Dann, fast übergangslos, bläht sich der leuchtende Ball auf! Größer!! Noch größer!!! Die Bildschirme werden mit einem Schlag dunkel. Dann, nur einen Wimpernschlag später, wieder hell. Nein! Es sind nicht die Bildschirme! Es ist der ganze Bunker!!!

Im Bruchteil einer Sekunde wird alles Leben ausgelöscht.

18. Mai 1967

Einen Monat nach der Atomkatastrophe – sechs Wochen vor der Wahl – tritt die Regierung zurück. Der letzte offizielle Akt des Präsidenten ist die Verlesung des Untersuchungsberichtes. Vieles darin versteht er selbst nicht. Potenzierung durch Überlagerung, so lautet auf einen Nenner gebracht die Erklärung für die Katastrophe in Nevada. Die zweite Atombombe hatte zehn mal stärkere Auswirkungen, als zu erwarten gewesen wäre. Neben der Bunkerbesatzung, 21 Männer und Frauen, wurde ein kompletter Armeestützpunkt wegradiert. Wie im Bunker war es auch hier nicht möglich gewesen, die Leichen zu trennen und ordentlich zu bestatten. Es war alles nur noch Asche. Nur mit dem Unterschied, dass es sich im Stützpunkt um 837 Menschen gehandelt hatte. Das war aber nicht alles. Die radioaktive Wolke hatte eine kleine Studentengruppe erreicht, die sich mit der Vegetation am Rand der Wüste beschäftigte. Die Opfer unter den Soldaten und Wissenschaftlern hatten die Öffentlichkeit längst nicht so beschäftigt wie diese zehn verstrahlten Studenten. Der Spruch, wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um, traf ja auf die jungen Menschen nicht zu. Sie, und mit ihnen das ganze Volk, wussten nun, was auf sie zukommt. Ein früher, und vermutlich auch noch sehr qualvoller Tod. Die großzügige Entschädigung der scheidenden Regierung konnte da wohl wenig gut machen.

Eine der jungen Frauen in dieser Studentengruppe hieß Corinne.

 

28. Juni 1981

„Schon wieder so ein verfluchter Haufen!" Brad Laddings war stinksauer. Seit Wochen schon, ach, seit Monaten kämpfte er gegen eine Flut von Ameisen. Ein neuer Hügel der bisher eigentlich eher unauffälligen braunen Waldameise war über Nacht aus dem Nichts aufgetaucht, nur eine knappe Meile vom Haupthaus seines Anwesens hinweg. „Was soll ich nur gegen die Viecher tun", brummelte er in seinen Bart. In seinen ungepflegten Bart, denn seitdem seine Corinne vor einem Jahr gestorben war, kümmerte er sich nicht mehr so um sein Äußeres.

Der Hof, die Cow-Ranch, wie die Nachbarn sie immer noch nannten, obwohl es schon lange keine Rinder mehr gab, lag ihm aber sehr am Herzen. Wohlgeordnet fand der Besucher alles an seinem Platz. Die Bestellung der Felder ging Brad über alles, wie auch seine kleine Herde irischer Schafe, die er wie Kinder behandelte und verhätschelte. Die waren auch der Grund, warum er immer noch so intensiv gegen die an sich wenig störenden Ameisen vorging. Spürten seine Schäfchen einen Hügel in ihrer Nähe, reagierten sie unruhig. Selbst wenn es sich nur um eine kleine Spur handelte, sie gingen ihr aus dem Weg.

Corinne hatte Ameisen gemocht. „Die kleinen niedlichen Krabbler, die tun doch keinem etwas", hatte sie immer gesagt. Ihre Liebe zu Ameisen begann 1967. An dem Tag, über den beide nie mehr gesprochen hatten. Corinne brachte damals ein paar Ameisen aus Nevada mit. „Sie haben das gleiche durchgemacht wie ich, ich will ein paar Leidensgefährten an meiner Seite wissen", lautete ihre Begründung. Nun, im Prinzip war es ihm egal. Ihn hatte nur dieses chaotische Durcheinander der Ameisen immer gestört. „Deine Krabbler haben zwar eine Königin, aber trotzdem keine Disziplin. Genau wie die Engländer", pflegte er dann zu sagen. Wie gern hatte er Corinne mit der Herkunft ihrer Familie geneckt. Er war ein waschechter Amerikaner. Texaner sein Vater, seine Mutter stammte aus Nevada. Ihre Eltern jedoch kamen aus Europa, waren während des zweiten Weltkrieges in die Staaten ausgewandert. Sie war zwar hier geboren, ein bisschen Oxford-Englisch haftete der Professorentochter jedoch trotzdem an.

„Bullshit" – heute natürlich nicht mehr. Corinne war vor knapp einem Jahr gestorben. Krebs lautete die Diagnose. Was sonst! Die verfluchte Bombe! Was nutzte ihm jetzt das Geld, das sie als Entschädigung für ihre Verstrahlung bekommen hatte? Gewiss, er konnte sorgenfrei damit leben, egal wie viel der Hof abwarf. Aber was hatte das Leben ohne Corinna noch für einen Sinn? Sie wollte an der südlichsten Grenze ihres Territoriums begraben werden, und natürlich erfüllte Brad ihr diesen Wunsch. Er hatte ihr immer alle Wünsche erfüllt. Sie ihm auch. Bis auf den einen, den nach einem Erben. Er hatte schwer zu kauen an Corinnes Tod. Sie waren immer sehr beschäftigt gewesen, hatten kaum Freunde. Corinnes Eltern waren 1975 nach Europa zurück gekehrt, sie wollten die letzten Lebensjahre dort verbringen, wo sie aufgewachsen waren. Der frühe Tod ihrer einzigen Tochter hatte sie zerbrochen. Nicht einmal zur Beerdigung waren sie über den großen Teich gekommen, in das Land, das ihre Tochter auf dem Gewissen hatte. Seine Eltern waren schon fünf Jahre tot, seit dem Absturz über Houston. Das hatte Brad verkraftet, er hatte ja Corinne mit ihrem Lebensmut, ihrem Optimismus. 40 wäre sie nächstes Jahr geworden.

Brad war einsam. Verflucht einsam. Vor zehn Jahren hatten sie die Rinder abgeschafft. Die Leute waren mehr und mehr dazu übergegangen, Grünzeug zu essen. Brad verstand es zwar nicht, sah aber ein, dass es eine brotlose Kunst wäre, wenn er auf der Rinderzucht beharrt. Nicht dass es ihnen finanziell etwas ausgemacht hätte. Aber er tat gern Sachen, die sinnvoll sind. Und sein Biofood kam an, er hatte weniger Arbeit als früher. Zu bestimmten Zeiten stellte er Saisonkräfte ein, immer wieder andere, denn er wollte sich an niemanden gewöhnen. Ihm reichte Corinne, Corinne hatte an ihm genug – warum also sollten sie jemand anderes in ihr Leben lassen.

Jetzt hatte sie ihn verlassen. Und er war kurz davor, alles hinzuschmeißen. Eigentlich machte er nur weiter, weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte. Sein Leben zu beenden, das kam Brad nicht in den Sinn. Schließlich wollte er erst eines Tages, wenn seine Zeit reif ist, von der großen Bühne abtreten. Und sollte er Corinne dann doch irgendwo begegnen, dann wollte er nicht als Flüchtling vor ihr stehen, sondern als jemand, der sein Leben gemeistert hat. Aber das war wohl eh alles Quatsch mit dem Leben nach dem Tod und so. Brad hatte den Glauben an Gott schon lange abgelegt, wenn er ihn überhaupt einmal besaß. Sein Vater pflegte immer zu sagen: „Wenn es den da oben wirklich gibt, und er bei all dem Grauen ruhig zuschauen kann, ohne etwas dagegen zu tun, dann ist er verdammt noch mal niemand, den ich auf einen Whiskey einladen möchte". Dem konnte sich Brad eigentlich nur anschließen. Trotzdem schaute er fast jeden Tag auf seiner Tour über sein Land an Corinnes Grab vorbei. Er sprach ein paar Worte mit ihr und hoffte, dass sie ihm, Gott hin, Gott her, von irgendwo zuhörte. Dann ordnete die Blumen auf dem kleinen Hügel, von dem man trotz der Entfernung von ein paar Meilen bis zum Hof schauen konnte. Es war ihr Lieblingsplatz gewesen, ihr Feldherrenhügel, wie sie immer scherzhaft gesagt hatte. Von hier aus konnte sie sehen, was ihr ans Herz gewachsen war, hier konnte sie vergessen, was ihr passiert war.

Unweit dieses Platzes der Besinnung waren ihm die Ameisen zum ersten Mal aufgefallen. Es mag ein halbes Jahr her gewesen sein, da tauchte einen Steinwurf weit von Corinnes Grab der erste Hügel auf. Ein riesiges Ding, völlig untypisch für diese Gegend. Im Norden, wo die Ebene in die Berge überging, da waren Ameisen nichts Besonderes, hier waren sie ihm noch nie aufgefallen. Der Gedanke, dass sie neben den oberirdischen Straßen vielleicht auch unterirdische Gänge hatte, die bis zu Corinnes Grab führten, machte ihn rasend. Deshalb hatte er begonnen, etwas gegen die Viecher zu unternehmen. Er schüttete diverse Flüssigkeiten auf die Hügel, häufte trockenes Gras auf, das er verbrannte, trug die Erdhaufen ab und warf sie in den Fluss – er probierte einfach alles aus, was ihm in den Sinn kam. Es half immer nur kurz, und jedes Mal rückten die Ameisen ein Stück näher an den Hof.

Brad stand kurz davor, in die Stadt zu fahren und einen Profi zu engagieren, obwohl es ihm zuwider war, andere um Hilfe zu bitten, wenn es nicht unbedingt nötig war. Er hatte immer seinen Mann gestanden. Aber was soll es. „Wenn Du weiter machst, obwohl Du nicht mehr weiter weißt, bist Du nicht klüger als das Vieh, das Du vor Dir her treibst", war ein Spruch seines Vaters gewesen. Allerdings war Brad sich nicht sicher, ob andere seine Abneigung gegen die Viecher teilten. Das mit Corinnes Grab wäre ja noch erklärbar, aber dass die Schafe einen Bogen um die Ameisen machten, wäre wohl für die Grünen kein ausreichender Grund, einen Feldzug gegen die Insekten zu führen. Die elenden Naturschützer! Frösche und Nacktschnecken waren ihnen wichtiger als Straßen. Indirekt machte Brad sie für den Tod seiner Eltern verantwortlich. Die Grünen hatten den Bau eines Highways verhindert, der es seinen Eltern ermöglicht hätte, ihn in einer vernünftigen Zeit mit dem Auto zu erreichen. So mussten sie fliegen, und einer dieser Flüge fand kein gutes Ende. Nun, er war bereit zu kämpfen. Gegen die Ameisen. Und gegen die Grünen. Aber eine Woche wollte er noch warten. Vielleicht war der verfluchte neue Haufen ja der letzte.

 

 

17. April 1977

 

Zehn Jahre nach der Atom-Katastrophe schreibt die New York Post in einem Beitrag über die Testfolgen u. a.: „Die radioaktive Strahlung hatte zwar nur kurz auf die Studenten und ihre Umgebung eingewirkt, aber es war lange genug, um in ihren Zellen, in ihren Genen etwas zu ändern. Einige von ihnen wurden unfruchtbar. Die anderen hatten zwar ihre Zeugungsfähigkeit erhalten, als aber eine der Betroffenen eine lebensunfähige Missgeburt zur Welt brachte, ließen die übrigen jede Hoffnung fallen, der Nachwelt etwas anderes als ihren Namen und die Geschichten über ihr Schicksal zu hinterlassen. Ähnliches war auch den betroffenen Landstrichen in Nevada wiederfahren. In manchen war alles Leben erloschen, andere Stellen wiederum brachten in rasender Geschwindigkeit immer neue Pflanzenvariationen hervor. Lebensfähig davon war aber auch nur ein Bruchteil, und nichts wuchs lange genug, um Samen zu entwickeln."

 

4. Juli 1981

„Jetzt reicht es aber!" Brad platzt fast der Kragen. Da hatte er diesen blöden Ameisenhaufen extra unbehelligt stehen gelassen, damit die Biester nicht wieder gezwungen würden, sich einen neuen Bau zu errichten. Und was ist passiert? Kaum eine Woche später muss er einen weiteren Hügel erblicken. Unmittelbar in der Hofeinfahrt! Das ist doch der Gipfel. Jetzt hält ihn nichts mehr. Er steigt in seinen Jeep, rast mit voller Wucht durch den Haufen, Baumaterial und Ameisen hoch durch die Luft schleudernd. Mit Höchstgeschwindigkeit jagt er auf die Stadt zu, um dort jemanden zu suchen, der Erfahrung im Kampf gegen Ungeziefer aller Art hat.

 

6. Juli 1981

Am Morgen des traumhaft schönen Sommertages findet man Brad Laddings Wagen unmittelbar hinter der Grenze seiner Ländereien. Oder besser das, was davon übrig ist. Das Fahrzeug ist total ausgebrannt, seine Leiche bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.

Es war ein Zufall, dass ihn überhaupt so schnell jemand gefunden hatte. Jeder wusste, dass Brad nur ein- bis zweimal im Monat in die Stadt kommt, und sonst hatte er ja, außer in der Erntezeit, alle Kontakte nach außen abgebrochen. Es war Luise Jorfinger, die ihn fand. Sie sagte nicht, was sie dort zu suchen hatte, aber alle wussten, dass sie ein Auge auf Brad Laddings geworfen hatte. Sie war allein, er war allein. Und außerdem war er auch noch reich. Nicht, dass es ihr niemand gegönnt hätte. Luise musste viel durchstehen in ihrem Leben. Die Eltern früh verloren, nie Glück mit Männern gehabt, und nun lebte sie, obwohl mitten in der Stadt, ebenso zurückgezogen wie Brad. Aber, man war hier nicht in Houston oder einer anderen Großstadt, man war in der Provinz. Und da es noch nicht ganz ein Jahr her war, seitdem der Krebs Brads Frau Corinne besiegt hatte, galt es natürlich auch als unschicklich, dass er sich mit einer neuen Frau einließ. Oder in diesem Fall wohl mehr eine neue Frau mit ihm. Obwohl, getuschelt wurde schon einiges. Wer sollte auf den großen Ländereien auch sagen können, ob sich beide nicht doch irgendwo trafen? Nun, das war jetzt alles hinfällig. Und bei allem Erschrecken über diesen Unfall gab es doch viele, die dem Tod etwas Positives abgewinnen konnten. Immerhin war er jetzt ja wieder mit seiner Corinne vereint, und dass beide sich unsterblich geliebt hatten, das wusste schließlich hier jeder. Die Untersuchung der Polizei ergab, dass Brad mit stark überhöhter Geschwindigkeit von der Straße abgekommen und vor einen Baum geprallt war. Das Auto musste sofort in Flammen aufgegangen sein, an der Deformation des Fahrzeuges war aber zu erkennen, dass Brad Laddings zu diesem Zeitpunkt mit großer Sicherheit schon nicht mehr gelebt hatte. Der Sheriff legte den Fall zu den Akten und versiegelte den Hof des Verstorbenen. Die Schafe wurden vorerst in eine andere Herde überführt, bis ihre Zukunft geklärt war. Alles weitere lag nun in den Händen der Anwälte, die sich auf die Suche nach eventuellen Erben machen mussten. Und die sich angesichts der millionenschweren Hinterlassenschaft aus Corinnes Entschädigung und dem hervorragenden Wirtschaften der beiden mit Sicherheit eine goldene Nase an diesem Auftrag verdienen konnten.

 

2. August 1980

Einer von vielen war er. Vielleicht ein wenig cleverer als die anderen, wenn es galt, Arbeit zu delegieren oder sie gar nicht erst an sich herankommen zu lassen. Er fühlte sich immer als Kundschafter im fremden Land. Tagaus, tagein für die Gesellschaft zu schuften, das war nicht sein Ding. Oft unternahm er ausgedehnte Touren durch die Gegend. Manchmal war er tagelang unterwegs, besonders, wenn er einen Ausflug in Richtung der im Süden gelegenen Ebene machte. Das war auch jetzt wieder der Fall. Er lief einfach der Nase nach. Ohne Ziel zwar, aber immer begierig, etwas Neues kennen zu lernen. Deshalb fiel ihm auch sofort das neue Gebäude auf. Kleiner als die vielen anderen, die er auf seinen Wanderungen gesehen und erkundet hatte. Und noch etwas war anders. Die Bauwerke, zu denen er sich bisher Zutritt verschafft hatte, ragten immer zum größeren Teil aus der Erde heraus. Hier hingegen befand sich nur ein kleiner, noch dazu massiver und somit nicht begehbarer Abschnitt oberhalb des Erdreiches, der größere hingegen war vergraben. Für ihn stellte das natürlich kein Problem dar. Der Boden war weich, das Gebäude nicht tief, und schon nach kurzer Zeit hatte er die Außenwand erreicht. Eine Schwachstelle war schnell gefunden, dann war er drin. Seinem Instinkt folgend, drang er durch eine Öffnung in ein Art Raum in dem Gebäude ein. Nach kurzer Orientierung war ihm klar – das war es, wonach er seit Jahren gesucht hatte. Ohne es zu wissen, wonach er suchte. Aber das war es! WISSEN! Vor ihm lag Wissen in riesiger Menge. Schnell fand er sich zurecht. Er sog die neuen Erkenntnisse förmlich in sich auf. Wie das erfolgte, konnte er sich nicht erklären. Aber das war auch egal. Quer durch alle Wissensgebiete eignete er sich an, was sein Gehirn fassen konnte. Dann war er da! Zaghaft noch, wie aus dem Nebel, formte sich in seinem Kopf ein Plan. Als er spürte, dass seine Aufnahmefähigkeit erschöpft war, machte er sich auf den Weg. So schnell hatte er noch nie nach Hause gefunden. Schnell waren seine beiden besten Freunde kontaktiert, in kürzester Zeit hatte er sie davon überzeugt, sich mit ihm auf den Weg machen zu müssen, auch wenn sie sich nur schwer von ihrer Arbeit trennen konnten. Zurück bei seinem Fund, wurden auch sie sofort beseelt von dem neuen Wissen. Sein Plan wurde ihr Plan, er wurde ihr Kopf, ihr Führer. Und in seinem Hirn bildete sich nicht nur der Plan, dort pulsierte auch ein Name, der eines der bedeutendsten Heerführer aller Zeiten: NAPOLEON! Auch seine Freunde wählten sich ihre Namen aus dem neu geschöpften Wissen: Nelson und Eisenhower.

 

4. Juli 1981

Der Krieg muss irgendwann sein erstes Opfer fordern. Auf der anderen Seite. Napoleon fand, dass es an der Zeit sei, die Kampfhandlungen zu eröffnen. Vorerst als Test, im kleinen Rahmen. Seine Kundschafter hatten berichtet, dass der Feind plant, sich mit anderen Gegnern zu verbünden, um auf breiter Front vorzugehen. Das darf natürlich nicht passieren! Napoleon hätte zwar gern noch einen Monat mehr Zeit gehabt, um restlos alle Vorbereitungen abzuschließen, aber vielleicht hatten Wallenstein und Nelson ja auch recht. Alles war bereit! Er wollte nur keinen Fehler machen. Trotz der unerschöpflichen Wissensquellen, die ihnen inzwischen zur Verfügung standen – das letztlich doch recht dürftige Depot der ersten Stunde hatte längst ausgedient – war er sich noch immer nicht ganz sicher. Es handelt sich immerhin seine erste Welteroberung! Aber was soll es: Zauderer haben in der Geschichte nicht lange überlebt. Gedacht, getan.

Napoleon löst den Großalarm aus. In dieser Sekunde beginnt das Ende der Welt, wie man sie bis dahin kannte.

Millionen von Soldaten begeben sich in Bereitschaft. Von der Außenwelt noch unbemerkt, bringt sich die größte Streitmacht, die die Erde je gesehen hat, in Stellung. Die erste Armee schwärmt aus, um sich dem Feind entgegen zu werfen. Der Plan ist lange ausgearbeitet, mehrfach wurden alle Handgriffe geprobt. Jetzt geht alles rasend schnell und reibungslos. Die Pioniere rücken vor, bauen eine Basis auf. Der Feind jedoch reagiert anders als erwartet. Erst weicht er einer direkten Konfrontation aus, um dann plötzlich einen verzweifelten Ausbruchsversuch zu unternehmen. Zwar lassen dadurch doch noch viele Soldaten auf dem Feld der Ehre ihr Leben, aber eine genügend große Anzahl heftet sich an den Gegner, dringt durch seine Deckung und stürzt sich auf den verhassten Feind. Jetzt hält sie nichts mehr. Zu lange mussten sie zusehen, wie ihre Mitstreiter hingemeuchelt wurden.

Der Feind kommt nicht weit.

An einem Baum zerschellt der Jeep von Brad Laddings. Sein Körper wird gegen das Armaturenbrett geschleudert, er ist auf der Stelle tot. Auch sonst wären ihm höchstens noch wenige Minuten geblieben. Das Gift in seinem Körper hatte schon zu wirken begonnen. Ein kurzer Funke, und das ausgelaufene Benzin brennt lichterloh. Die Flammen verrichten ganze Arbeit, lassen nicht mehr erkennen, warum Brad Laddings die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hat. Die erste Schlacht ist gewonnen. Und das ist erst der Anfang. Stolz macht Wallenstein Meldung an Napoleon. Der gibt sofort das Signal an alle heraus:

DIE EROBERUNG DER WELT HAT BEGONNEN!"

 

12. August 1980

Schon wenige Tage nach seinem Aufsehen erregenden Fund hatte Napoleon den Durchblick. Das Gebäude, in das er eingedrungen war, nannten die Menschen einen Sarg. Sein Wissensspeicher – Ursprung der plötzlichen Weiterentwicklung seiner Art – war einst ein Mensch gewesen. Der Mensch, der ihn und seine Familie nach Texas gebracht hatte. Corinne war ihr Name, und sie hatte das gleiche Schicksal wie seine Vorfahren erlitten – eine radioaktive Verstrahlung. Was aber auf Menschen und Pflanzen zerstörerisch wirkte, hatte auf seine Spezies eine andere Auswirkung. Die Strahlung hatte fortgesetzt, was irgendwann im Verlauf der Evolution stecken geblieben war. Denn eines war Napoleon klar. Es konnte nur ein Lebewesen geben, das über die Erde herrschte. Die Ameise!

Die Strahlung hatte bei Corinne Laddings nicht nur zum Krebs geführt, der ihrem Leben ein Ende setzte. Sie hatte auch einen biochemischen Prozess in Gang gesetzt, der dazu führte, dass ihr Gehirn auch nach dem Tod noch aktiv war. Die durch die Strahlung mutierten Ameisen und ihre Nachkommen waren in der Lage, ihr Wissen aufzunehmen und anzuwenden. Bis dahin zwar höher entwickelt als ihre Artgenossen, aber keinesfalls klug zu nennend, wurden durch dieses Wissen die brachliegenden Bereiche der Ameisenhirne aktiviert. Die Tiere waren nicht mehr nur in der Lage, prozentual zu ihrem Körpergewicht und ihrer Größe weitaus höhere Leistungen als alle anderen Lebewesen zu vollbringen, sie waren nun plötzlich auch weitaus intelligenter als alles, was die Erde bisher hervor gebracht hatte.

Innerhalb kürzester Zeit traten die verschiedensten Talente zu Tage. Schnell waren unterirdische Datenleitungen zwischen den leistungsstärksten Computern dieser Welt angezapft. Die Nachkommen der Nevada-Ameisen machten sich auf zu den Atomtestgeländen auf allen Kontinenten, suchten und fanden ihresgleichen. Stützpunkte wurden errichtet. Napoleon kam auf die entscheidende Idee, wie man die Streitmacht schnellstmöglich erweitern könnte. Ameisen-Wissenschaftler untersuchten radioaktives Material, sie entwickelten einen Bestrahlungsapparat, mit dem die Völker auf allen Erdteilen geweckt und in die große Armee eingeordnet wurden. Napoleons Ruf drang in jeden Winkel, und es gab kaum jemanden in dem gehorsamkeitsgeprägten Gefüge der Ameisenstaaten, der sich Napoleons Herrschaftsanspruch in den Weg stellte. Der große Plan nahm Gestalt an.

4. Juli 1981

Unaufhaltsam fallen die Ameisenarmeen in Städten und Dörfern ein. Alle Versuche, der Plage Herr zu werden, scheitern. Nicht nur, dass die Ameisen immun gegen alle herkömmlichen Insektenvernichtungsmittel sind, ihr Gift, das schnell in Nahrungsmitteln und Wasser gefunden wird, wirkt auf die Menschen in kürzester Zeit lähmend und führt in den meisten Fällen zum Tod. Diejenigen, die aufgrund irgendwelcher Umstände nicht an dem Gift sterben, werden einfach von Tausenden und Abertausenden kleiner Beißzangen zerkleinert.

 

4. Juli 2011

„Cleopatra! Hörst Du mir überhaupt zu!? Was habe ich gerade gesagt?" Cleo hebt unwirsch den Kopf. „Sie sprachen über die Herrschaftsübernahme", brummt sie mürrisch. „Und was kannst du mir dazu erzählen?" Die vom Geschichtsunterricht nicht gerade begeisterte Schülerin hebt den Kopf: „Heute vor 30 Jahren begann der große Krieg der Ameisen, der wahren Herrscher der Welt. Innerhalb von drei Monaten wurden die bis dahin dominierenden Lebewesen, die Menschen, vom Antlitz der Erde getilgt. Wir Ameisen nahmen den uns angestammten Platz an der Spitze der Evolution ein. Zu dem wenigen, was wir von den Menschen übernommen haben, gehört, dass wir uns Namen aus ihrer Geschichte geben. Immerhin waren sie es, die uns mit ihren Atombomben den Weg zur Herrschaft ebneten", schließt Cleopatra. Und kaum hörbar fügt sie hinzu: „Und die blöde Schule, die gibt es auch noch."

Thomas Becker

Arnstadt, Juli 2000

 

Alle Rechte beim Autor.

 

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